Brennpunktproblem: Arzthaftungsprozesse dauern zu lange

1. Im Arzthaftungsrecht liegt einiges im Argen

Arzthaftungsprozesse dauern häufig sehr lange, gefühlt: zu lange.

Dies ist einerseits dem Umstand geschuldet, dass es meist um komplexe medizinische Sachverhalte geht, deren „Beweismaterial“ sich zudem manchmal noch im Fluss befindet, solange eine Anschlussbehandlung noch andauert.

Nach der Rechtsprechung des für das Arzthaftungsrechts zuständigen VI. BGH-Senats gilt überdies der „Amtsermittlungsgrundsatz“. D.h. anders als im regulären Zivilprozess ist das Gericht von Amts wegen verpflichtet, um prozessuale Waffengleichheit zwischen den Parteien herzustellen, den Sachverhalt unter Berücksichtigung aller entscheidungserheblichen Gesichtspunkte mit Hilfe eines oder mehrerer Gutachter aufzuklären. Dies erfordert Zeit, da Sachverständige mit der Bearbeitung eines solchen Auftrages unter Berücksichtigung ihrer übrigen Verpflichtungen nicht sofort beginnen können.

Am Ende einer solchen Beweisaufnahme lässt sich eine „Wahrheit“ über das Passierte und dessen Auswirkungen auf das körperliche Wohl des Patienten nicht immer zweifelsfrei feststellen. Es wird dann nach Beweislastgesichtspunkten entschieden. Der Patient bekommt nach jahrelangem Prozess den Eindruck, es sei an sich gar nicht um die Wahrheitsermittlung gegangen, sondern eher darum, dass das Gericht „ein Verfahren geführt“ habe, welches an einen Selbstzweck erinnert. Zwar habe man ihm freundlich zugehört, damit er sich mit seinem Anliegen nicht alleingelassen fühlen brauchte, aber befriedigend ist ein solcher Ausgang keineswegs und er stellt auf keine „Werbung für die Justiz“ dar.

2. Dauer von Arzthaftungsprozessen

Ein durchschnittlicher Amtshaftungsprozess im OLG-Bezirk Köln mit einem Sachverständigengutachten und einer mündlichen Verhandlung dauert in erster Instanz zwei bis zweieinhalb Jahre. Pro weiterem Sachverständigen kann von einer weiteren Verzögerung von durchschnittlich einem Jahr ausgegangen werden. In der zweiten Instanz ohne erneute Beweisaufnahme ist von einer durchschnittlichen Dauer von acht bis neun Monaten auszugehen. Beim BGB können Arzthaftungsprozesse sieben Monate bis zu zwei Jahren und länger dauern. Insgesamt besteht das Problem, dass Statistiken über die Laufzeiten von Zivilprozessen nur ausnahmsweise veröffentlicht werden, woran man diese Erfahrungswerte konkret darlegen könnte. Ob ein Verfahren „überlange“ i.S.v. § 198 GVG dauert, lässt sich zwar nicht abstrakt, sondern nur am jeweils konkreten Einzelfall beurteilen. Die Dauer von Arzthaftungsprozessen ist in allen Instanzen jedoch optimierungsbedürftig.

3. Zu wenige Richter und zu schlechte Sachausstattung der Justiz

Die PEBB§Y-Zahlen werden als Maßstab herangezogen, um die vorliegende Situation einzuordnen. In erster Instanz werden 1193 Minuten und in zweiter Instanz 2155 Minuten veranschlagt. Die sich deutlich überlastet fühlenden Richter empfinden dies für einen so umfangreichen Prozess, wie den Amtshaftungsprozess, als deutlich zu wenig, zumal diese Art von Prozess meist von erheblicher Bedeutung für die Beteiligten ist.

Dieses Empfinden ist jedoch nicht nur so beim Arzthaftungsprozess. Eine Schwäche der PEBB§Y-Zahlen wird zudem darin gesehen, dass häufige Änderungen in der personellen Besetzung des Spruchkörpers, unerwartete Ausfälle (z.B. durch Erkrankung) und eine allgemein zu hohe Grundbelastung keine angemessene Berücksichtigung finden. Sowohl personell, als auch bezüglich der Sachmittel sind die Gerichte dafür nicht angemessen ausgestattet.

Bezüglich der Arzthaftungsprozesse kann es zudem zu Verzögerungen dadurch kommen, dass der mit der Bearbeitung betraute Richter die meist umfangreichen Prozesse als unangenehm empfindet und daher eher liegen lässt.

  1. Was getan werden kann

Lässt der Richter die Akten zu lange liegen, kann dies durch den Anwalt durchaus angemahnt werden.

Seitens des Gerichts kann durch eine geschickte und konsequent angewendete Verfahrensgestaltung zur Beschleunigung des Verfahrens beigetragen werden. Ein schriftliches Vorverfahren (§ 276 ZPO) wird in erster Instanz gegenüber dem frühen ersten Termin als vorzugswürdig angesehen.

Außerdem wird angeraten, die Schweigepflichtsentbindungserklärung, Liste der Vor- und Nachbehandler und einen angemessenen Vorschuss für das Sachverständigengutachten bereits mit Verfahrenseinleitung anzufordern.

Nur in Ausnahmefällen, bei einfach gelagerten Fällen sollte der Prozess an einen Einzelrichter übertragen werden. Dies sei auch nur bedingt geeignet, eine Beschleunigung herbeizuführen.

Verhandlungs- und Beweisaufnahmetermine sollten im Voraus mit Anwälten und Sachverständigen abgestimmt werden, da ständige Neuansetzungen des Termins nicht nur ärgerlich sind, sondern auch einen erheblichen Verzögerungsfaktordarstellen.

Parteien – insbesondere Ärzte – sollten nur persönlich geladen werden, wenn es absehbar ist, dass sie wirklich benötigt werden. Wenn sie von sich aus erscheinen, sollten sie angehört werden.

Als sinnvolle Maßnahme zur Beschleunigung kann im Berufungsverfahren eine Erledigung im Beschlussverfahren (g 522 Abs.2 ZPO) dienen, wenn sie mit Augenmaß betrieben wird. So ist ein Beschlussverfahren hingegen nicht geeignet, soweit es um Fälle mit erheblicher gesundheitlicher oder persönlicher Betroffenheit, mit geschädigten Kindern, unzureichender Gewährung von rechtlichem Gehör im ersten Rechtszug u.a. geht (vgl. OLG Köln, Beschluss vom 3.8.201S – 5 U 197/14).

Nach Möglichkeit sollte eine Zurückverweisung an die erste Instanz wegen unzureichender Sachaufklärung vermieden werden.

Vor einer erneuten umfangreichen Beweisaufnahme kann eine Erörterung zunächst sinnvoll sein.

Als bewährt haben sich das Festlegen eines konkreten Beratungstermins und dessen Mitteilung an die Anwälte (auch zum Zweck der Selbstdisziplinierung des Gerichts) herausgestellt.

  1. Anwälte als Verzögerungsfaktoren

Der Zeitanteil, der auf anwaltliche Stellungnahmefristen entfällt, wird gerne unterschätzt, wobei in Arzthaftungsprozessen zudem überdurchschnittlich häufig Fristverlängerungsanträge gestellt werden. Hier besteht viel Beschleunigungspotential.

Die Dauer des Arzthaftungsprozesses hängt häufig maßgeblich davon ab, wie dieser angelegt und vorbereitet ist. Medizinische Kenntnisse müssen sich zwar weder Patient noch Anwalt aneignen, aber sie helfen ungemein, den Prozess sinnvoll und stringent zu führen.

Es sollten zudem auch andere Möglichkeiten in Betracht gezogen werden, den Prozess medizinisch vorstrukturiert anzulegen und dadurch zu erleichtern und zu verkürzen. So können z.B. im Voraus Gutachterkommissionen einberufen werden, Privatgutachten oder MDK-Gutachten oder Stellungnahmen von Nachbehandlern eingeholt werden oder einfach grobe Recherchen im Internet betrieben werden.

Zu Anträgen zur Schadenshöhe (insbesondere Erwerbs- und Unterhaltsschäden) lässt sich sagen, dass diese oft äußerst kontraproduktiv sind. Schmerzensgeld- und Feststellungsanträge sind regelmäßig hinreichend zielführend.

In der Regel nicht hilfreich und unnötig verzögernd sind recht vorsorgliche Streitverkündungen.

Da jedes letztlich unnötige Gutachten geeignet ist, den Prozess unnötig zu verzögern, sollte der Streitgegenstand so eng und vor allem so fachbezogen, wie möglich bestimmt werden.

Zudem sind zu frühe Klagen zu vermeiden, wenn eine gewisse Stabilität und Absehbarkeit der gesundheitlichen Entwicklung des Patienten als gewährleistet gilt.

Von anwaltlicher Seite sollte sich nicht ausschließlich auf die Fürsorgepflicht des Gerichtes verlassen werden. Durch eigenes und vor allem rechtzeitiges Mitdenken und z.B. durch eigenständiges Vorlegen aktueller Unterlagen, Hinweise auf notwendige Dolmetscher bei Parteien oder Zeugen, usw. können unnötige Verzögerungen vermieden werden.

Auf Verzögerungen oder überlange Verfahrensdauer wiederum mit Verfahren zu reagieren, die die Befassung dritter Stellen erfordern (etwa auch Dienstaufsichtsbeschwerden), ist regelmäßig kontraproduktiv und sollte auf besonders gelagerte Fälle beschränkt bleiben.

 

  1. Sachverständige als Verzögerungsfaktoren

Trotz allem Ärger über zu lange dauernde Sachverständigengutachten gilt: Wichtiger als ein schnelles Gutachten ist ein gutes Gutachten. Die persönliche Erfahrung des Richters bei der Auswahl eines geeigneten Sachverständigen führt im Zweifel zu schnelleren und besseren Ergebnissen als die umständliche Einbindung von Ärztekammern oder Fachgesellschaften.

Anstatt vorab die Anknüpfungstatsachen für den Sachverständigen zu klären, sollten diese besser in dessen Anwesenheit geklärt werden.

  • 411 ZPO ist für eine gerichtliche Reaktion auf sich hinschleppende Sachverständigengutachten nicht als hilfreich anzusehen, da dadurch weder das konkrete Verfahren noch die Bereitschaft der qualifizierten Sachverständigen, einen Gutachtenauftrag zu übernehmen, entscheidend gefördert werden.

Gegenüber einem oder mehreren schriftlichen Ergänzungsgutachten ist eine mündliche Anhörung des Sachverständigen vorzugugswürdig.

Ein Ablehnungsgesuch gegen den Sachverständigen bei einem nicht genehmen Gutachten hilft in der Sache nicht und ist dazu geeignet, den Prozess unnötig zu verzögern.

 

VlI. Auswirkungen von Massenverfahren

Massenverfahren stellen eine längerfristige Belastung von nicht geahntem Ausmaß für die Justiz dar. Hierbei wären andere Möglichkeiten, als individuelle Verfahren geboten. Hinzu kommt, dass Massenverfahren auf die Richter – also auch auf die Richter, die sich gerade mit Arzthaftungsprozessen beschäftigen – verteilt werden. Dies geht dann unmittelbar zu Lasten der Bearbeitung von Arzthaftungsprozessen.

VlIl. Auswirkungen der BGH-Rechtsprechung

Von der höchstrichterlichen Rechtsprechung wurden Besonderheiten entwickelt, die den Arzthaftungsprozess prägen und auch für seine Dauer mitverantwortlich sind. Dazu gehören z.B. die umfassende Pflicht zur Einholung von Sachverständigengutachten zur Klärung von Widersprüchen, das Außerkraftsetzen von Verspätungs- und Präklusionsregeln, die erheblich erschwerte Verjährung usw. Sie sind Ausdruck hohen rechtsstaatlichen Standards und eines Vorrangs der materiellen Gerechtigkeit vor der Prozessökonomie. Daher sind sie sind nicht zu kritisieren. Allerdings zeigt sich bei einigen eher jüngeren Entscheidungen die Tendenz, dass ein eher fragwürdiger Gewinn an materieller Gerechtigkeit einen kaum noch verhältnismäßigen Aufwand an Sachaufklärung zu verursachen schien (so etwa die Entscheidung zum Angehörigenschmerzensgeld, BGH, Urteil vom 21.5.2019, VI ZR 299/17, oder die Zytostatika-Entscheidungen, BGH, Urteil vom 20.2.2019, VIII ZR 7/18 u.a.).

Als höchst unbefriedigend sind die Entscheidungen zu Hygienemängeln (BGH, Beschluss vom 16.8.2016 – VI ZR 634/15 u.a.) anzusehen, die der Beklagtenseite eine überaus umfangreiche Darlegung von getroffenen Maßnahmen auferlegen, bislang aber nicht erklären, wie weiter zu verfahren ist.

So liegt die Befürchtung nahe, dass sich solche Verfahren in Zukunft immens aufblähen werden, ohne dass wirklich eine höhere Einzelfallgerechtigkeit zu erzielen sein wird.

 

  1. Das selbständige Beweisverfahren

An der jüngeren Rechtsprechung des BGH zur Zulässigkeit des selbständigen Beweisverfahrens (Beschluss vom 24.9.2013 – VI ZB 12113 -, BGHZ 198, 237 ff.) lässt sich erkennen, dass dieses vielfach mit der Hoffnung verbunden wird, eine schnellere und effiziente Alternative zu oftmals langwierigen Arzthaftungsprozessen zu schaffen.

Mit einer einheitlichen Handhabung des selbstständigen Beweisverfahrens tut sich die Rechtsprechung eher schwer. Auch der BGH geht bezüglich der Anwendung von § 142 ZPO (vgl. Beschluss vom 29.11.2016 – VI ZB 23116) teilweise inkonsequent vor.

Einer Ansicht nach sei ein selbständiges Beweisverfahren (nach § 485 Abs. 2 ZPO) nur dann ein empfehlenswerter Weg, wenn es von der Gegenseite akzeptiert und eine gütliche Streitbeilegung über die hier gewonnenen Erkenntnisse ernsthaft angestrebt werde. Dies sei vorab abzuklären.

Einige vertreten die Auffassung, ein selbstständiges Beweisverfahren in Arzthaftungsprozess führe absehbar zu verquer laufenden Hauptprozessen mit regelmäßig neuer Beweisaufnahme und damit zu einer deutlichen Verlängerung des Verfahrens. Denen, die dennoch ein selbstständiges Beweisverfahren durchführen wollen, wird geraten, sich zuvor alle notwendigen Behandlungsunterlagen selbst zu beschaffen; die Gerichte seien hierbei im Zweifel nicht behilflich.

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