Das Lüth-Urteil

I. Einführung

Das Lüth-Urteil des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) vom 15.1.1958 (BVerfGE 7, 198 ff.=NJW 1958, 257 ff.) stellt eines der Pfeiler der demokratischen Grundordnung dar. Indem sich das Gericht mit der bis zur Lüth-Entscheidung heftig umstrittenen mittelbaren Drittwirkung der Grundrechte im Privatrecht auseinandergesetzt und dabei die Auslegung der Meinungsfreiheit und ihre Einschränkung erläutert hat, wurde die Bedeutung der Demokratie für das Volk und für das friedliche Zusammenleben der Bürger nochmal bestätigt. Im Folgenden werden eine kurze Wiedergabe des Sachverhalts und die Kernaussagen des Bundesverfassungsgerichts zu den oben genannten Themenschwerpunkten dargestellt.

II. Der Boykottaufruf von Lüth

Ausgangspunkt der Gerichtsentscheidung war der Boykottaufruf des Leiters der staatlichen Pressestelle der Freien und Hansestadt Hamburg und Vorsitzenden des Presseklubs in Hamburg Erich Lüth gegen den Film „Unsterbliche Geliebte“, der von Veit Harlan produziert wurde. Zu dieser Zeit wurde Harlan als Regisseur des antisemitistischen Films „Jud Süß“ bekannt geworden. Dies bewog Harlan und die an der Produktion beteiligten Filmgesellschaften vor dem Landgericht in Hamburg Klage gegen Lüths Aufruf zu erheben. Das Landgericht hat in dem Boykottaufruf eine sittenwidrige vorsätzliche Handlung im Sinne von § 826 des Bürgerlichen Gesetzbuchs (BGB) gesehen und aus diesem Grund den Lüth dazu aufgefordert, es zu unterlassen, die Besucher davor abzuschrecken und fernzuhalten. Gegen dieses Urteil des Landgerichts wehrte sich Lüth mit einer Verfassungsbeschwerde vor dem Bundesverfassungsgericht.

III. Kernaussagen des Lüth-Urteils

1. Ausstrahlungswirkung der Grundrechte auf das Privatrecht

Grundsätzlich sind Grundrechte Abwehrrechte des Bürgers gegen den Staat. Mit dieser bekannten Aussage hat das Verfassungsgericht zunächst erläutert, dass die Grundrechtsnormen dazu dienen, den Bürgern vor staatlichen Handlungen zu schützen. Demnach ist es naheliegend, dass eine Verfassungsbeschwerde vor dem BVerfG nur gegen Akte öffentlicher Gewalt statthaft ist.

Von dieser Meinung hat sich bis zur Lüth-Entscheidung nur das Bundesarbeitsgericht (BAG) abgewichen. BAG vertrat die Ansicht, dass Grundrechte immer dann in privatrechtliche Rechtsbeziehungen eingreifen dürfen, wenn zwischen den Parteien Machtungleichgewicht besteht. Ein solches Machtungleichgewicht ist in der Regel im Rahmen des Subordinationsverhältnisses zwischen Staat und Bürger zu sehen. Eben dieses Ungleichgewicht kommt allerdings in privatrechtlichen Rechtsverhältnisse immer dann zum Ausdruck, wenn eine Partei aufgrund wirtschaftlicher Macht bessersteht als die andere. Diese Ansicht des BAG war damals die einzige Ausnahme, die sog. mittelbare Drittwirkung der Grundrechte im Rahmen des Privatrechts zuließ.

Dieser Meinung hat sich das BVerfG bei der Entscheidung über die Verfassungsbeschwerde von Lüth angeschlossen. Als Begründung hat das Verfassungsgericht angeführt, dass die Grundrechte objektive Normen sind und als solche auch Einfluss auf das Privatrecht haben. Die privatrechtlichen Regelungen werden dementsprechend von dem Wertesystem der Grundrechte beeinflusst und müssen im Lichte der Grundrechte ausgelegt und angewendet werden.

Die Ausstrahlungswirkung der Grundrechte verdeutlicht sich vor allem bei den abstrakt-generellen Normen des Zivilrechts – insbesondere bei Grundrechtsklauseln wie § 826 BGB und § 242 BGB. Aufgrund der äußerst unbestimmten Rechtsnatur der Tatbestandsmerkmale dieser Normen („die guten Sitten“ in § 826 BGB und „Treu und Glauben“ in § 242 BGB) erlangen die Zivilgerichte einen großen Beurteilungsspielraum. Dies kann allerdings Segen und Fluch sein. Die Zivilgerichte sind daher an Recht und Gesetz nach Art. 1 Abs. 3 GG gebunden. Aus dieser Bindung erwächst die Wirkung der Grundrechte zwischen Privatrechtssubjekten. Die zu berücksichtigenden Grundrechte sind sodann im Wege der Abwägung in einen angemessenen Ausgleich zu bringen.

2. Bedeutung der Meinungsfreiheit

Darüber hinaus traf das BVerfG beachtliche Kernaussagen zu der Meinungsfreiheit aus Art. 5 Abs. 1 Satz 1 Fall 1 GG, ihre Auslegung und ihre Einschränkbarkeit durch die „allgemeinen Gesetze“ des Art. 5 Abs. 2 GG.

a) Reichweite der Meinungsfreiheit und das Demokratieprinzip

Es ist zunächst zu fragen, was „Meinung“ bedeutet. Meinungen sind alle Werturteile und Stellungnahmen, die von subjektiven menschlichen Überzeugungen gebildet und in die Außenwelt kundgetan werden. Die Freiheit, eine Meinung zu haben, zu bilden und zu äußern, ist ein grundlegendes Element des Demokratieprinzips. Nur wenn das Volk seine Meinung frei von Zwang und Druck äußern kann, ist es möglich, eine Demokratie durch die Bundestagwahlen zu bilden, ein friedliches Zusammenleben zu gewährleisten und den Einzelnen vor einer Verobjektivierung seines Daseins durch den Staat zu schützen. Aus diesem Grund stellt Art. 5 Abs. 1 GG – neben Art. 8 und Art. 9 GG – auch ein sog. demokratisches Grundrecht dar, das besonderen Verfassungsschutz genießt.

b) Einschränkung des Art.5 Abs.1 GG durch „allgemeine Gesetze“ des Art.5 Abs.2 GG

Die Meinungsfreiheit aus Art. 5 Abs. 1 Satz 1 Fall 1 GG gilt allerdings nicht schrankenlos. Sie kann aufgrund des qualifizierten Gesetzesvorbehalts des Art. 5 Abs. 2 GG eingeschränkt werden. Im Zentrum der Luth-Entscheidung konzentriert sich das BVerfG auf Erläuterung der „allgemeinen Gesetze“. Der Begriff der „allgemeinen Gesetze“ ist indes umstritten. Im Folgenden werden die vertretenen Ansichten dargelegt.

aa) Sonderrechtslehre

Nach der vertretenen Sonderrechtslehre ist die Meinungsneutralität des Gesetzes entscheidend. Danach sind nur diejenigen Vorschriften „allgemeine Gesetze“, die sich nicht gegen eine bestimmte Meinung als solche richten, also nicht eine Meinung wegen ihres Inhalts als solche verbieten. Das bedeutet, dass die allgemeinen Gesetze kein „Sonderrecht“ darstellen dürfen.

bb) Abwägungslehre

Nach der Abwägungslehre liegt hingegen ein „allgemeines Gesetz“ dann vor, wenn es dem Schutz eines Rechtsguts dient, das höherwertig ist als die Meinungsfreiheit. Dabei ist eine Güterabwägung zwischen den sich widerstreitenden Rechtspositionen der Beteiligten erforderlich, wobei die Meinungsfreiheit zwingend zurückzutreten hat.

cc) Kombinationslehre

Das BVerfG schließt sich allerdings nicht einer der oben genannten Lehren an, sondern kombiniert diese zusammen. Danach liegt ein allgemeines Gesetz vor, wenn es sich nicht gegen eine bestimmte Meinungsäußerung wendet und zugleich dem Schutz eines höherwertigen Schutzguts als die Meinungsfreiheit dient. Diese Kombinationslehre ist auch angemessen und berücksichtigt die herausragende Bedeutung der Meinungsfreiheit, unterstellt aber, dass eine Beschränkung anhand der strengen Anforderungen der Kombinationslehre zulässig und geboten ist. In seinem Urteil hat BVerfG § 826 BGB als ein solches „allgemeines Gesetz“ anerkannt.

c) Wechselwirkungstheorie

Die Tatsache, dass die Meinungsfreiheit einschränkbar ist, sollte allerdings nicht den Schluss zulassen, dass sie von vornherein beschränkt werden kann. Aufgrund der Wichtigkeit dieses Grundrechts für die freiheitlich-demokratische Grundordnung muss dem Einzelnen die Möglichkeit einer ständigen geistigen Auseinandersetzung offenstehen. Aus diesem Grund muss das allgemeine Gesetz im Lichte der Meinungsfreiheit so ausgelegt und interpretiert werden, dass es sich nicht gegen diese verstößt.

IV. Fazit

Zum Schluss lässt sich festhalten, dass das Lüth-Urteil ein Grundsatzurteil ist, das eine mannigfaltige Auswirkung sowohl auf das öffentliche Recht als auch auf das Privatrecht hat. Dadurch wird die Bedeutung der Grundrechte weiter verstärkt. Zugleich wird die Reichweite und Einschränkbarkeit des Art. 5 Abs. 1 GG klargestellt. Unter Berücksichtigung dieser Kernaussagen war die Lüths Verfassungsbeschwerde von Erfolg gekrönt.

Erstellt am 03.03.2022

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Vyara Dinkova

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