Der Umgang des Bundesverfassungsgerichts mit der Verfassungsbeschwerde des Fernsehmoderators Jan Böhmermann, die im Beschluss 1 BvR 2026/19 vom 26.1.2022 ohne Begründung nicht zur Entscheidung angenommen wurde, lässt ein strukturelles Problem des Instituts der Verfassungsbeschwerde erkennen. Nämlich: Dass das Bundesverfassungsgericht „über den Dingen steht“ und sich für seine Entscheidungen niemand gegenüber rechtfertigen muss, sie nicht einmal zu begründen braucht.

Die diesbezügliche Regelung, dass es bei der Ablehnung einer Verfassungsbeschwerde keiner Begründung bedarf, findet sich in § 93b Abs. 1 S. 3 BVerfGG und geht bereits auf das Jahr 1963 zurück, als das sog. „Annahmeverfahren“ geregelt wurde, wonach die Verfassungsbeschwerden von Bürgern und Kommunalverbänden i.S.v. Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a und 4b GG, nicht aus sich heraus zulässig sind, sondern gem. §§ 13 Nr. 8a, 90 ff. BVerfG nur dann, wenn das Bundesverfassungsgericht sie „annimmt“.

Der Gesetzgeber wollte damit verhindern, dass die zusammen auf zwei Senate verteilten 16 Richter des Bundesverfassungsgerichts vor Arbeit „absaufen“, zu deren Aufgaben nicht nur die Bearbeitung sog. „Urteilsverfassungsbeschwerden“ gehört, sondern auch diverse andere in Art. 93 GG dem Bundesverfassungsgericht zugewiesene Aufgaben, z.B. Organstreitsachen oder Bund-Länder-Streitigkeiten. Diese erkannte der Gesetzgeber als vorrangig bzw. wichtiger, weswegen zwar die ganz überwiegende Mehrzahl der Fälle, in denen das BVerfG angerufen wird, die „Hilferufe“ einfacher Bürger sind, die sich damit jedoch bitte hinter in der Schlange anstellen mögen und drangenommen werden, wenn für sie auch noch Zeit bleibt.

Oder auch nicht, wie nun im Fall des Jan Böhmermann, obgleich die juristische Fachwelt fest damit gerechnet hat, dass das BVerfG diesen in der Öffentlichkeit sehr virulent diskutierten Fall eines „Schmähgedichts“ nutzen wird, um die Reichweite der Meinungs- und Kunstfreiheit noch einmal genauer zu justieren.

Zuweilen ist es jedoch auch nicht nur die Arbeitsbelastung, warum die Verfassungsrichter eine Beschwerde ohne Begründung nicht zur Entscheidung annehmen, sondern wenn ihnen der Fall als „zu heikel“ erscheint. Wenn sie ihn nicht behandeln möchten, weil sie mit einer Entscheidung „auf die Füße treten“, sich zumindest jedoch selber angreifbar machen könnten.

Es gibt zumindest Verdachtsmomente dafür, dass es hier so gewesen sein könnte, denn der türkische Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan ist ein leicht aufbrausender Mann, der das Verfassungsbeschwerdeverfahren gewiss unter Beobachtung genommen haben wird. Ausgehend von seinen bisherigen Rechtsprechungslinien zur Meinungsfreiheit, angefangen mit dem sog. Lüth-Urteil (BVerfGE 7, 198), stellt diese für einen demokratischen Rechtsstaat ein überragend hohes Rechtsgut dar. Das Bundesverfassungsgericht bezeichnete sie in dieser Grundsatzentscheidung als „konstituierend schlechthin“.

Dass die Gedichts-Äußerungen von Böhmermann neben der bislang verfassungsrechtlich noch etwas weniger beleuchteten Kunstfreiheit aus Art. 5 Abs. 3 GG in jedem Fall in den Schutzbereich der Meinungsfreiheit aus Art. 5 Abs. 1 GG fielen, konnte nicht zweifelhaft gewesen sein; auch nicht, dass die Entscheidungen des Landgerichts und Oberlandesgerichts mit dem Teilverbot darin eingegriffen haben.

Aber dieser Rechtsstreit war delikat; er hatte bereits eine außenpolitische Krise mit der Türkei zur Folge, da die türkische Regierung es nicht verstehen konnte oder wollte, dass Satiriker in Deutschland den Status von Hofnarren haben, die so gut wie alles sagen dürfen, solange sie nur groß „Satire“ darüber schreiben.

Es lag somit nahe, dass das BVerfG, wenn es sich inhaltlich zur Sache geäußert hätte, etwas gesagt hätte, das die Bedeutung dieser beiden Grundrechte unterstreicht. Es hätte sich in Bezug auf die Interessen der Bundesrepublik zur Türkei dabei jedoch „auf dünnem Eis“ bewegt, gerade jetzt, wo in Europa mit dem Ukraine-Konflikt eine noch sehr viel existentiellere Krise von den NATO-Mitgliedern, wozu auch die Türkei zählt, zur Bewältigung ansteht.

In dieser Situation mag den Richtern Paulus, Christ und Frau Härtel die Weisheit gedeucht haben, dass derjenige, der schweigt, „Philosoph bleibt“. Mögen sich die anderen, die Juraprofessoren und Rechtsjournalisten, doch darüber ihre Gedanken machen, ob Böhmermann zu Recht oder zu Unrecht von der Hamburger Justiz (teil-)gemaßregelt wurde: Das BVerfG behielt seine Gedanken für sich.

Vielleicht hatte es auch sehr viel banalere Gründe, dass die Verfassungsrichter z.B. gerne auch später noch einmal in der Türkei Urlaub machen wollten, wo sie gewiss auf einer Fahndungsliste gestanden hätten, bei einer „Contra-Erdogan-Entscheidung“. Das Beratungsgeheimnis zwingt zum Schweigen; die Öffentlichkeit wird die wahren Gründe für diese Nichtannahmeentscheidung nie erfahren.

Dass es dazu überhaupt nichts zu veröffentlichen gäbe und dem BVerfG schlichtweg der Arbeitsaufwand einer Begründung als zu hoch erschien, ist hingegen nicht glaubhaft. Denn aus seinen innersten Zirkeln wurde bekannt, dass jede Verfassungsbeschwerde, die – wie hier – die äußeren Förmlichkeiten wahrt, votiert wird. D.h., ein wissenschaftlicher Mitarbeiter schreibt ein sog. Votum, welches den Beschwerdesachverhalt analysiert, bewertet und auf dessen Grundlage das Gericht sodann entscheidet.

Ginge es nur darum, die Arbeit einer Begründung zu vermeiden, könnten – wenig arbeitsaufwendig – zumindest diese Voten auf Anfrage herausgegeben werden, als eine bessere Diskussionsgrundlage für die (Fach-)Öffentlichkeit.

Aber auch insoweit bleiben die Verfassungsrichter … Philosophen; auch ihre Voten bleiben unter Verschluss.

Der Fall der Verfassungsbeschwerde des Herrn Böhmermann sollte Anlass sein, darüber nachzudenken, ob der Gesetzgeber dies für zukünftige Fälle nicht ändern und das BVerfG über eine Veröffentlichungspflicht für die besagten internen Voten zumindest zu einer Andeutung zwingen sollte, warum eine Verfassungsbeschwerde ohne nähere Begründung abgewiesen bzw. „nicht angenommen“ wurde.

Die unten abgebildete Karrikatur zum „Grunzgesetz“, als erlaubte Form der Satire, wurde vom BVerfG übrigens nicht beanstandet (vgl. VG Karlsruhe, 4 K 1492/19, Urteil vom 18.10.2021).

Stand: 11.02.2022