Rechtswissenschaften und Mathematik
Doch ähnlicher als gedacht?
1. Einleitung
Judex non calculat: Der Jurist rechnet nicht. Dieser aus dem römischen Recht stammende Grundsatz wird von Juristen, die keine Lust auf Mathe haben sowie von Nicht-Juristen, die sich über die fehlenden mathematischen Kenntnisse einiger Juristen belustigen, viel zitiert. Juristen seien entweder nicht fähig oder nicht willig selbst leichteste mathematische Probleme zu lösen. Häufig hört man, dass ganze juristische Karrieren mit dem Gedanken begannen, man wolle bloß nie wieder etwas mit der Mathematik zu tun haben müssen. Jura und Mathe haben schließlich nichts miteinander zu tun. Oder?
2. Unterschiede
Auf den ersten Blick ist die Sache klar: 2 + 2 ist immer = 4. Die Mathematik ist eine exakte Wissenschaft, sie ist nicht so wie die Rechtswissenschaften wertungsoffen. Niemand käme auf die Idee anzumerken, dass 2+2 möglicherweise auch = 3,8 ergeben könnte. Oder = 4,3. Anders ist es im Recht: Gesetzesnormen müssen ausgelegt und auf einen Fall angewendet werden, wobei Juristen regelmäßig zu unterschiedlichen Ergebnissen kommen werden. Wären alle Sachverhalte so eindeutig wie 2+2, so müsste man sich schließlich gar nicht erst vor Gericht streiten. Außerdem können juristische Prozesse teilweise stark von politischen, sozialen oder moralischen Überlegungen beeinflusst sein, wodurch sie weniger objektiv sind als mathematische Berechnungen.
3. Ähnlichkeiten
Bei genauerer Betrachtung zeigt sich aber schnell, dass die Rechtswissenschaften und die Mathematik möglicherweise doch einige Ähnlichkeiten aufweisen.
Sowohl die Mathematik als auch die Rechtswissenschaften sind teleologisch darauf gerichtet, durch das Anwenden von Regeln und Formeln Probleme vollständig und ohne Widerspruch zu lösen. Beide setzen somit logisches Denken voraus. Jura wird deshalb teilweise auch als „in Wort gekleidete Mathematik“ bezeichnet.
Auch systematisch sind sich die Rechtswissenschaften und die Mathematik ähnlich. Insbesondere die AT-Regeln im BGB, die „vor die Klammer“ zu ziehen sind und somit grundsätzlich auch für die anderen Teile gelten, erinnern an das mathematische Distributivgesetz. Zudem ist die sog. Wenn-Dann-Regel, nach der eine bestimmte Folge an das Bestehen einer Bedingung geknüpft wird, sowohl in Jura als auch in der Mathematik von Bedeutung. In Jura sieht das so aus: Wenn ein bestimmter Tatbestand erfüllt ist, dann tritt eine bestimmte Rechtsfolge ein. In der Mathematik ist es ähnlich: Wenn ein bestimmter Sachverhalt so ist, wie ist dann ein anderer Sachverhalt? In der Mathematik wird somit danach gefragt, was das „Dann“ ist, während in Jura gefragt wird, ob das bereits bekannte „Dann“ eintritt. Weitere Ähnlichkeiten bestehen hinsichtlich der Hilfsmittel. In der Mathematik helfen Formelsammlung oder Taschenrechner weiter, in den Rechtswissenschaften ist es der Gesetzestext. Die Formeln oder Normen werden in Jura anhand eines Prüfungsschematas geprüft, während in der Mathematik Rechenwege zur Lösung des Problems bereitstehen. Beide sind zumeist sehr schematisch oder methodisch aufgebaut und auf der Suche nach dem Endergebnis werden zunächst viele Zwischenergebnisse gewonnen.
Aber auch in der Rechtspraxis werden die Schnittstellen zwischen Jura und der Mathematik nochmals deutlich. Natürlich hängt es auch vom jeweiligen Rechtsgebiet ab, mit wieviel Mathematik ein Jurist sich konfrontiert sieht. Klar ist, dass ein im Steuerrecht tätiger Jurist deutlich mehr zu rechnen hat als ein Jurist, der im Strafrecht tätig ist. Allerdings wird auch ein Strafrechtler gelegentlich mit der Mathematik konfrontiert sein. Denn die rechtliche Frage nach der Kausalität hängt häufig mit Statistiken zusammen, schließlich kann man an Statistiken ablesen, wie sich zwei Daten oder Fakten zueinander verhalten. Weil aber Korrelation nicht gleich Kausalität ist, muss der Jurist feststellen, ob eine Kausalität tatsächlich besteht. Er darf sich nicht auf die Statistik verlassen. Außerdem sind auch Wahrscheinlichkeiten in Jura relevant, insbesondere um das Prozessrisiko zu analysieren.
4. Ergebnis
Mathe und Jura sind folglich gar nicht so verschieden, wie es viele meinen. Zwar liegt ein maßgeblicher Unterschied zwischen Mathe und Jura in der Wertungsoffenheit der Rechtswissenschaften, allerdings gibt es insbesondere innerhalb ihrer Systematik und Logik viele Schnittstellen. Und „Judex non calculat“ will dem Juristen eigentlich auch gar nicht seine mathematischen Fähigkeiten absprechen, sondern zielt vielmehr darauf ab, dass die Qualität der vorgetragenen Argumente die Quantität der vorgetragenen Argumente im Prozess überwiegt.
Quellen
Radbruch, Knut; Mathematik in den Geisteswissenschaften; Göttingen, 1989
Rath, Martin; LTO: Okkulte Rechnerei; Hürth, 2012
Steffens, Alexandra; Aon: „Iudex non calculat“ – Schluss mit Vorurteilen: Jura und Mathe verstehen sich ziemlich gut; Hamburg, 2021
Chiusi, Tiziana; Faz: Der Bachelor ist ein Loser-Abschluss; Frankfurt, 2022
Risse; NJW 2020, 2383: Mathematik, Statistik und die Juristerei
Erstellt am 24.02.2023
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