Rechtsanwälte und ihre Richter

Worin besteht in publizistischer Hinsicht der Unterschied zwischen Rechtsanwälten und Richtern? Wer als Rechtsanwalt einen (wissenschaftlichen) Beitrag veröffentlicht, äußert damit lediglich seine „Privatmeinung“. Welche Außenwirkung diese entfaltet, ob und wer von ihr überzeugt wird, ist ungewiss, zumal in einer Zeit, in der über elektronische Medien und ein zunehmendes Angebot an Fachzeitschriften mehr geschrieben wird, als je zuvor.

Gerichte allerdings, wenn sie Entscheidungen verkünden, haben es nicht nötig, Überzeugungsarbeit für die Richtigkeit ihrer Auffassungen zu leisten: Richter sprechen durch ihr Urteil (vgl. Uwe Kranenpohl: Hinter dem Schleier des Beratungsgeheimnis, 2010, S.454). Sie brauchen nichts zu kommentieren und zu rechtfertigen, sondern können sich auf die staatliche Autorität ihres Rechtsprechungsmonopols berufen. Urteilen sie zwar stets im Einzelfall, so werden ihre Rechtsansichten doch für gewöhnlich verallgemeinert (sog. Präzedenzurteile). Jeder frisch ins Amt gelangte Proberichter einer Eingangsinstanz vermag auf diesem Weg nachhaltiger zu wirken, als seine ihn kürzlich zuvor noch unterrichtenden Lehrmeister an den Universitäten.

Ein Rechtsanwalt, der rechtspolitisch wirken möchte, erreicht daher mehr, wenn er sich nicht in die Schlange der Autoren einreiht, die auf die Annahme ihrer Beiträge durch die Schriftleitungen der Verlage warten, sondern ein Gericht dazu bewegt, einen streitigen Sachverhalt in seinem Sinne zu begutachten, um dieses sodann der Veröffentlichung zuzuführen. Sollte das Urteil „falsch“ sein bzw. nicht auf Zustimmung stoßen, vermag seine Bekanntgabe gleichwohl einen gewichtigen Beitrag zur Fortbildung des Rechts zu leisten, indem es in den einschlägigen Fachkreisen zu Diskussionen führt.

Ein Gerichtsurteil, ganz gleich welchen Gerichts, führt jedenfalls zu mehr Außenwirkung und Beachtung, als eine bloße Literaturstimme – und wird über Suchmaschinen des Internets und Datenbanken regelmäßig auch schneller veröffentlicht.

In medias res: Einige Kritikpunkte zur Anwaltsgerichtsbarkeit und deren Auswirkungen auf das materielle anwaltliche Berufsrecht.

1. Anwaltsgerichtsbarkeit und ihre Nähe zur Exekutiven

Im System der Anwaltsgerichtsbarkeit wird derzeit Reformbedarf erkannt. Rennert (AnwBl. 2014, 905) und Quaas (AnwBl. 2015, 330) zeigen mit diskussionswürdigen Ansätzen auf, dass verwaltungsrechtliche Anwaltssachen besser angegliedert an die Verwaltungsgerichtsbarkeit aufgehoben sein könnten, als in der Nähe zu Oberlandesgerichten. Ob dies für ein liberales, zukunftsorientiertes Berufsrecht günstiger wäre, sollte damit letztinstanzlich nicht der Bundesgerichtshof, sondern das Bundesverwaltungsgericht über Anwaltsangelegenheiten entscheiden, erscheint hingegen ungewiss: Verwaltungsrichter haben in Personalangelegenheiten für gewöhnlich mit Beschäftigten des öffentlichen Dienstes zu tun und könnten von Rechtsanwälten leichthin (unbewusst) erwarten, sich als solche zu verhalten.

Die anwaltlichen Richter an den Anwaltsgerichten und Anwaltsgerichtshöfen werden gem. §§ 94 Abs.2, 103 Abs.2 BRAO von den jeweiligen Landesjustizministern auf Vorschlag der Rechtsanwaltskammern ernannt. Eine andere Möglichkeit, in die Richterämter zu gelangen, als über die Vorschlagslisten der RAK-Vorstände, besteht nicht. Allein bereits schon dieser Umstand begründet die Besorgnis, dass die in jenen Gerichten tätigen Rechtsanwälte im Streitfall eine gesteigerte Nähe zu den Kammervorständen und ihren – als Terminsvertretern fungierenden – Geschäftsführern mitbringen, mit denen sie aufgrund langjähriger Bekanntheit eng verbunden sind (und deswegen schließlich wohl vorgeschlagen wurden). Eine Änderung hin zu mehr Mitbestimmung der Anwaltschaft insgesamt bei der Auswahl ihrer Richter könnte zwar darin liegen, wie bei den Mitgliedern der Satzungsversammlung zukünftig unmittelbar wählen zu lassen, wer den Justizministern für die Richterämter vorgeschlagen werden soll, wobei sich auch hier jedoch wiederum einflussreiche Gruppen wie z. B. regionale Anwaltvereine, aufgrund ihres guten Organisationsgrades, Wählerstimmen zu mobilisieren, mit ihren Interessen durchsetzen könnten.

Eine Stärkung der Unabhängigkeit der Anwaltsgerichtshöfe könnte jedenfalls darin liegen, dass in verwaltungsrechtlichen Anwaltssachen die Geschäftsverteilungspläne vorsehen, dass jene Rechtsanwälte als Richter nicht mitentscheiden dürfen, die aus eben den Bezirken stammen, in denen der Streit entstanden ist: So könnte vermieden werden, dass die beklagte Rechtsanwaltskammer ein zu großes Näheverhältnis zu den Entscheidern der Streitfälle unterhält.

2. Vertretung durch Sozietäten der Richter-Kollegen

Tatsächlich kann es passieren, dass sich Rechtsanwaltskammern vor den Anwaltsgerichtshöfen – anstelle von ihren Geschäftsführern, wie man es bei der öffentlichen Verwaltung erwarten darf (arg ex §§ 112 c Abs.1 BRAO, 67 Abs.2 und 4 VwGO) – durch Kanzleien vertreten lassen, denen als Sozietätsmitglied ein amtierender Richter des zur Entscheidung berufenen Anwaltsgerichtshofs angehört (So die Problematik im Verfahren AnwGH Hamm 2 AGH 26/12, vgl. Beschluss vom 12.4.2013). Hierdurch entsteht leichthin der Eindruck, dass zwischen Richtern und Rechtsanwaltskammern „die Schreibtische zu eng zusammenstehen“. Ungeachtet der Frage, ob § 67 Abs.5 VwGO aufgrund seiner Verweisung in § 112c Abs.1 BRAO dieses überhaupt gestattet (offen gelassen in AnwGH Hamm 2 AGH 26/12, Urteil vom 8.11.2013, und BGH AnwZ(Brfg) 82/13, Beschluss vom 12.3.2015), wenn der Briefkopf der Sozietät der RAK-Prozessbevollmächtigten diesen Anwaltsrichter führt, sollte unter den AGH-Richtern ein Ehrenkodex etabliert werden, der solches ausschließt. Andernfalls könnte auch hierdurch die Besorgnis begründet werden, dass sich die Senate in der Verlegenheit sehen könnten, nicht zum Nachteil einer Sozietät eines ihrer Kollegen zu entscheiden.

3. Anwaltsgerichte in Abhängigkeit von Rechtsanwaltskammern

Im Disziplinarrecht vor den Anwaltsgerichten besteht die Besonderheit, dass nur Entscheidungen zurückgehend auf Anschuldigungen durch Generalstaatsanwaltschaften noch von einer höheren Instanz überprüft werden können, nicht aber Beschlüsse über Rügebescheide des Kammervorstandes. Was aber, wenn der zugrundeliegende Streit sedes materiae grundsätzliche Bedeutung hat und das Anwaltsgericht über den Einspruch gegen eine Rüge zu entscheiden hat. Eine mögliche Fehlentscheidung eines Anwaltsgerichts, als gleichwohl nicht mehr angreifbares Präjudiz, mag das Berufsrecht dann ggf. in eine falsche Richtung lenken.

Anwaltsgerichte unterhalten gem. § 98 Abs. 1 und 2 BRAO eine Geschäftsstelle, deren erforderliche Bürokräfte, Räume und Arbeitsmittel durch die Rechtsanwaltskammer zur Verfügung gestellt werden. Welche Funktion haben Anwaltsgerichte? U. a. Rügebescheide des Kammervorstandes in Verfahren nach § 74 a BRAO zu überprüfen. Diejenige staatliche Stelle, die überprüft werden soll, stellt also die Sach- und Personalmittel für die darauf gerichtliche richterliche Tätigkeit. Welchen Protest würde es vom Standpunkt der Gewaltenteilung wohl hervorrufen, würden die Strafgerichte ihre Sach- und Personalmittel von den Staatsanwaltschaften oder die Verwaltungsgerichte von den Regierungspräsidien beziehen? Wie blind kann Justitia unter diesen Umständen sein? Ein besseres Fundament für Neutralität wäre, die Anwaltsgerichte komplett in die ordentliche Gerichtsbarkeit einzugliedern und unabhängig von den Rechtsanwaltskammern aus den Landeshaushalten zu finanzieren.

4. Anfechtbarkeit von Beschlüssen einer Kammerversammlung

Der Anwaltsgerichtshof Hamm (Urteil 2 AGH 26/12 vom 8.11.2013) und der Bundesgerichtshof (Urteil AnwZ(Brfg) 82/13 vom 12.3.2015) hatten sich mit der Frage zu befassen, ob und inwieweit Beschlüsse der Mitgliederversammlung gerichtlich anfechtbar sind, worüber es in zurückliegenden Jahren immer mal wieder Streit gab. Dem lag als Ausgangskonflikt zugrunde, dass bei der beklagten Rechtsanwaltskammer eine lange Tradition bestand, dass die jährlichen Versammlungen (§ 89 BRAO) von Kammermitgliedern dominiert wurden, die dem Kammervorstand eher unkritisch gegenüberstanden, da sie im Grunde „immer wieder von denselben“ Stimmenmehrheiten beherrscht wurden: Rechtsanwälte, die zugleich bei den drei örtlichen Anwaltvereinen aktiv waren, wobei diese Anwaltvereine nicht nur geringe finanzielle Zuwendungen aus dem Kammerhaushalt erfuhren. Haushaltsvorlagen wurden „abgeschmust“; eine kritische Kontrolle der Verwendung der Finanzmittel durch den Kammervorstand seitens der Mitgliederversammlung fand faktisch nicht statt, was nach Bekanntwerden erstaunlicher Unregelmäßigkeiten ein anhaltendes Misstrauen über die Lauterkeit der Mittelverwendung zur Folge hatte, sodass schließlich der in der Kammerversammlung getroffene Beschluss zur Festsetzung des Mitgliedsbeitrages und zur Entlastung des Kammervorstandes zusammen mit den Wahlen zum Kammervorstand gerichtlich angefochten wurde. Gerügt worden war insbesondere, dass der Kammerhaushalt anstelle von unabhängigen „Kassenprüfern“, wie sie in den Satzungen eingetragener Vereine selbstverständlich sind, lediglich von einer WP-Gesellschaft überprüft wurde: Diese konnte jedoch nur die rechnerische Richtigkeit und stichprobenartig den Bestand von Ausgabenbelegen überprüfen, nicht jedoch, ob der Vorstand zweckgebundene Pflichtbeiträge zur Finanzierung eines Karnevalsempfangs im ersten Hotel der Stadt aufwendete.

Der AnwGH Hamm und der Bundesgerichtshof haben die Anforderungen an die Zulässigkeit einer solchen Klage jedoch so hoch gehängt, dass sie praktisch unerreichbar sind: Es gibt offenbar Abhaltungen in der Anwaltsgerichtsbarkeit, die damit verbundene Arbeit, Beschlüsse einer Kammerversammlung gerichtlich nachzuprüfen, nicht schultern zu wollen: Steht dieses Ziel fest, lässt sich juristisch immer auch ein Weg finden, die für die Klage notwendige Beschwer des Klägers in eigenen Rechten hinwegzuargumentieren.

Hierzu stellt sich die Frage, ob der vom BGH bestätigte restriktiver Umgang zur faktisch nicht bestehenden gerichtlichen Nachprüfung von (Haushalts-)Beschlüsse einer Kammerversammlung der Selbstverwaltung eher schadet als nützt. Der „Versammlung der Kammer“ obliegt gem. § 89 Abs.2 Nr. 6 BRAO u. a., „die Abrechnung des Vorstandes über die Einnahmen und Ausgaben der Kammer sowie über die Verwaltung des Vermögens zu prüfen und über die Entlastung zu beschließen“. Die Mitgliederversammlung als solche kann diese Aufgabe, einen Etat von mehreren Millionen Euro zu hinterfragen, binnen der wenigen Stunden ihres jährlichen Zusammentretens jedoch faktisch bereits nicht leisten. Ihr fehlt zum einen der Einblick in die Bücher der Geschäftsstelle und zum anderen die Zeit für eine eingehende Prüfung, gerade auch im Hinblick darauf, ob die Ausgaben des Vorstandes und der Geschäftsführer sich strikt auf den gesetzlichen Zuständigkeitsbereich der berufsständischen Kammer beschränkt haben. Wer fremde Gelder verwalten und ausgeben darf, unterliegt nun einmal der (nur zu menschlichen) Versuchung, seinen Aufgabenbereich weit zu verstehen, Freunde und Gönner als „Verwaltungshelfer“ oder gar „Beliehene“ zu beauftragen, sich als „Mäzen“ zu gerieren. § 89 Abs.2 Nr.6 BRAO überträgt der Mitgliederversammlung somit eine Aufgabe, die sie nur dann erfüllen könnte, wenn ihr unabhängige Kassenprüfer, die umfassend Zugang zur Buchhaltung der Geschäftsstelle haben und insbesondere die Mittelverwendung prüfen können, vor Beschlussfassung berichten würden. Solche Funktionsämter schreibt die BRAO bedauerlicherweise bislang jedoch nicht vor. Allein bereits die Präsenz von „Kassenprüfern“, wie jeder Sportverein sie kennt, die Gefahr, „entdeckt zu werden“, die bei einer bloßen WP-Gesellschaft als Überwachungsinstrument deutlich geringer ist, würde die notwendige Disziplin im Umgang mit den Mitgliederbeiträgen bereits befördern.

5. Einstellungen bei Rüge- und Anschuldigungsverfahren 

Liest man zu § 74a in den BRAO-Kommentierungen nach, findet sich dort durchgehend die Meinung, dass Verfahren über Anträge auf anwaltsgerichtliche Entscheidungen zur Überprüfung von Rügebescheiden nicht gem. §§ 153, 153a StPO eingestellt werden können, weil die Verfahrensvorschriften der StPO zu Opportunitätserwägungen im Rügeverfahren keine Rolle spielten (Vgl. Hartung in: Henssler/Prütting, BRAO, 4.Aufl. 2014, §74a Rn. 20; Kleine-Cosack, BRAO, 7.Aufl. 2015, §74a Rn.4; Weyland in: Feuerich/Weyland, BRAO, 9.Aufl. 2016, § 74a Rn.30; Lauda in: Gaier/Wolf/Göcken, Anwaltliches Berufsrecht, 2.Aufl. 2014, § 74a Rn.12). In zwei Fällen hat das AnwG Köln gleichwohl genau solche Verfahrenseinstellungen beschlossen, was Zustimmung verdient. Das Antragsverfahren vor dem Anwaltsgericht dient zwar der Überprüfung, ob der RAK-Vorstand das Verhalten eines Kammermitglieds zutreffend „gerügt“ hat. Der Rechtsgedanke der §§ 153, 153a StPO, auch wenn diese Vorschriften auf eine Ermessensentscheidung des Gerichts unter Mitwirkung der Beteiligten hinauslaufen, kann jedoch – jedenfalls in Ausnahmefällen – auch auf Berufsrechtsverstöße und nicht lediglich auf Straftaten und Ordnungswidrigkeiten Anwendung finden. Z. B., wenn das Rüge- und/oder Gerichtsverfahren bereits überlange gedauert hat oder der Sachverhalt unverhältnismäßig kompliziert aufzuklären wäre. Die überlange Dauer eines Gerichtsverfahrens begründet ungeachtet der §§ 198 ff. GVG einen Verstoß gegen den dem Rechtsstaatsgebot des Art. 20 GG ausfließenden Anspruch auf ein faires Verfahren (der zugleich auch in Art. 6 EMRK verbürgt ist). Da der Rechtsanwendungsbefehl des Art. 1 Abs. 3 GG auch die Anwaltsgerichte in die Pflicht nimmt, haben diese in jedem Stadium des Verfahrens zu prüfen, ob wegen etwaiger überlanger Verfahrensdauer, wie das AnwG Köln sie in beiden Fällen angenommen hat, die Verfahrensfortsetzung noch zumutbar ist.

6. Unterentwickelte Veröffentlichungskultur

Da uneingeschränkt jede BGH-Entscheidung zur Veröffentlichung gelangt, werden auch alle Urteile des Anwaltssenats der Öffentlichkeit zugänglich gemacht. Prüft man Juris – als die nach wie vor größte juristische Urteilsdatenbank – hingegen darauf ab, wie viele Urteile und Beschlüsse der Anwaltsgerichtshöfe und Anwaltsgerichte das Licht der Öffentlichkeit erblickt haben, fällt die Bilanz eher nüchtern aus. Von 1994 – 2015 finden sich dort 731 Einträge zu AGH-Entscheidungen und von 1995 – 2015 gerade einmal 96 zu solchen von Anwaltsgerichten. Da Juris im gleichen Zeitraum bereits über 2000 AnwZ-Entscheidungen des BGH auflistet und gewiss nicht in allen Streitfällen Rechtsmittel eingelegt werden, muss die Zahl der veröffentlichungsfähigen Ausgangsentscheidungen deutlich höher gelegen haben. Den anwaltlichen Berufsgerichten fehlt jedoch offenbar der Elan, ihre Entscheidungen zu publizieren, obgleich dies in Zeiten heutiger Datenbanken doch recht einfach wäre. Sie unterhalten nicht einmal eine eigene Homepage, auf denen sie ihre Geschäftsverteilungspläne veröffentlichen.

7. Wählbarkeit zu Ämtern der Selbstverwaltung bei Anschuldigungsverfahren

Nicht für ein Vorstandsamt wählbar ist, wer einen der Ausschlussgründe des § 66 BRAO verwirkt hat. Gem. § 66 Nr.1 BRAO genügt hierfür schon, dass ein anwaltsgerichtliches Verfahren „eingeleitet“ wurde, ungeachtet dessen, ob es später zu einem Freispruch oder gem. § 114 Abs.1 Nr.1 BRAO lediglich zu einer „Warnung“ führte, die für sich keinen Verlust der Wählbarkeit zur Folge hätte. Gem. § 121 BRAO wird das anwaltsgerichtliche Verfahren jedoch bereits durch die bloße Einreichung einer Anschuldigungsschrift durch die Generalstaatsanwaltschaft eingeleitet, d. h. im Zeitpunkt des Eingangs dieser Schrift beim Anwaltsgericht entfällt zwingend und unabdingbar das passive Wahlrecht. Diese Einschränkung ist deutlich strenger als für die Wahlen zu Volksvertretungen (vgl. u. a. § 13 Bundeswahlgesetz), was die Frage nach dem Grund dieser Strenge aufwirft und auch gefährlich sein kann: Möchte die Generalstaatsanwaltschaft ein bestimmtes Vorstandsmitglied oder gar den RAK-Präsident zur Wiederwahl verhindern, brauchte sie lediglich vor den Wahlen eine Anschuldigungsschrift gegen ihn einzureichen, und zwar so kurzfristig, dass das Anwaltsgericht gem. § 131 BRAO die Eröffnung der Hauptverhandlung nicht (rechtskräftig) ablehnen kann. Da die Generalstaatsanwälte gem. § 146 GVG der Weisungsgebundenheit durch die Landesjustizminister unterstehen, könnte auch ein Justizminister oder Staatssekretär auf die Idee kommen, einem Widersacher im RAK-Amt „eins auszuwischen“, was sich mit Unabhängigkeit der Selbstverwaltung nicht verträgt. Besser wäre daher eine Modifizierung bzw. Streichung des § 66 Nr.1 BRAO, um eine Einmischung der Landesjustizverwaltung in die Selbstverwaltung in der Form zu verhindern, dass sie z. B. einen rechtspolitisch engagierten (und ggf. „unbequemen“) Rechtsanwalt auf dem Weg über eine Anschuldigungsschrift kurz vor den Vorstandswahlen kurzerhand „kaltstellt“.

8. Übertragbarkeit von Aufgaben des Kammervorstands auf „Beauftragte“

Lässt man den Blick verträumt ins Gesetz schweifen, findet sich in § 79 BRAO, dass die laufenden Geschäfte einer Rechtsanwaltskammer durch das Präsidium geführt werden (sollen), welches „die Geschäfte des Vorstandes, die ihm durch dieses Gesetz oder durch Beschluss des Vorstandes übertragen werden“ (§ 79 Abs.1), erledigt, welches über „die Verwaltung des Kammervermögens“ (§ 79 Abs.2) beschließt und welches wiederum gem. § 78 Abs.1 BRAO von den Mitglieder des Vorstandes „aus seiner Mitte“ gewählt wird, und zwar alsbald nach dessen Konstituierung (§ 78 Abs. 4). Das RAK-Präsidium besteht gem. § 78 Abs.2 BRAO aus dem Präsidenten, dem Vizepräsidenten, dem Schriftführer und dem Schatzmeister, wobei die Zahl der Präsidiumsmitglieder vom Vorstand weiter – beliebig – erhöht werden kann (§ 78 Abs.3).

Die Realität jedoch sieht anders aus. Die täglichen Verrichtungen einer Rechtsanwaltskammer („Geschäfte“) werden nicht von gewählten Vorstandsmitgliedern, sondern von „RAK-Geschäftsführern“ erledigt, bei denen es sich lediglich um „leitende Verwaltungsangestellte“ handelt, denen weitere – nachgeordnete – Verwaltungsmitarbeiter der Kammergeschäftsstelle zugeordnet sind und weisungsgebunden zuarbeiten. RAK-Geschäftsführer werden arbeitsvertraglich vom Präsidium eingestellt und nicht von der Kammerversammlung gewählt, die bei ihrer Bestellung – unbeachtet der faktisch hohen Bedeutung dieser Ämter – auch kein Mitspracherecht besitzt. Sie zeichnen „i.A.“ und zuweilen auch „i.V.“, mit – mangels gesetzlicher oder satzungsrechtlicher Grundlage – unklarer Berechtigung ihrer Vertretungsmacht, wobei sie als Hauptamtliche gewiss über den Vorteil verfügen, dass sie das Berufsrecht durchweg besser beherrschen, als die lediglich ehrenamtlich tätigen und auf Zeit gewählten Vorstandsmitglieder, deren Hauptberuf in den Kanzleien liegt. Da die Bundesrechtsanwaltsordnung die Funktion von „Kammergeschäftsführern“ jedoch nicht vorsieht, ist bislang ungeklärt, inwieweit der Vorstand bzw. das Präsidium Entscheidungswalt in Disziplinar- und Verwaltungsangelegenheiten auf angestellte Kammergeschäftsführer übertragen und diesen eigenständige Entscheidungen überantworten darf. Z. B. die verbindliche Beantwortung von Mitgliederanfragen zu berufsrechtlich relevantem Verhalten, über Beschwerden, zur Anrechenbarkeit von Fortbildungsleistungen nach der FAO, bei Streitfragen in Ausbildungsverhältnissen, Abgabenmitteilungen an die Generalstaatsanwaltschaften etc.. Das Vakuum, das die Abwesenheit der gewählten Vorstandsmitglieder von den RAK-Geschäftsstellen bedingt, führt zu rechtsfreien Räumen für die Kammergeschäftsführer. Sollte ein Mitglied lediglich von einem RAK-Geschäftsführer beschieden werden, hat es unter Verweis auf § 79 BRAO auf Antrag jedenfalls einen Anspruch darauf, dass sich – je nach weiterer ggf. satzungsrechtlicher Ausgestaltung der Zuständigkeiten – entweder das Präsidium, eine Vorstandsabteilung oder aber der (Gesamt)Vorstand mit seinem Anliegen befasst.

Dass es einer Rechtsanwaltskammer nicht gestattet ist, ihrer hoheitlichen Aufgaben nach dem Berufsbildungsgesetz, die gem. § 71 Abs.4 BBiG als „zuständige Stelle“ ihr obliegen, auf Anwaltvereine und/oder „Ausbildungsbeauftragte“ zu übertragen, wurde gerichtlich hingegen bereits entschieden (vgl. BGH AnwZ(Brfg) 67/12, Urteil v. 10.3.2014; vorgehend AnwGH Hamm 2 AGH 24/11, Urteil . 7.9.2012).

Vorstehende Problempunkte wurden anhand von Erfahrungen aus berufsrechtlichen Rechtsstreiten erkannt (der Autor war jeweils verfahrensbeteiligt). Bei einer Überarbeitung der Anwaltsgerichtsbarkeit sollte de lege ferenda insbesondere der Frage nachgegangen werden, wie der Einfluss der Rechtsanwaltskammern bei der Besetzung der Berufsgerichte mit „unabhängigen“ Richtern, die nur ihrem Gewissen unterworfen sind (und sich nicht jenen Stellen verpflichtet sehen brauchen, die sie für ihre Ämter vorgeschlagen haben), minimiert werden kann. Durch eine jeweils eigene Internetpräsenz erführen die Anwaltsgerichte und Anwaltsgerichtshöfe jedenfalls die Möglichkeit, Entscheidungen mit grundsätzlicher Bedeutung unabhängig von den Redaktionen der lokalen RAK-Mitteilungsblätter vorzustellen und für eine bessere „Sichtbarkeit“ dieser Gerichte in der Öffentlichkeit zu werben.

Stand: 12.03.2017

Darf ein Rechtsanwalt die Privatadresse eines Richters an Mandanten weitergeben?

Vorab: Ja, er darf. Unfaire Verhandlungsführung Die Generalstaatsanwaltschaft Köln hatte in einem sog. Selbstreinigungsverfahren gem. § 123 BRAO darüber zu entscheiden, ob es berufsrechtlichen Bedenken begegnet, wenn ein Rechtsanwalt nach einer konflikthaften Gerichtsverhandlung seinem Mandanten nach Abschluss des Rechtsstreits die Adresse des „häuslichen Arbeitszimmers“ des Richters übermittelt, mit der Anregung, diesem einen „höflichen Protestbrief“ zukommen […]

Amtshaftungsansprüche bei nicht rechtzeitig zur Verfügung gestellten Kinderbetreuungsplätzen

Welche Rechte stehen Eltern zu, wenn nach rechtzeitiger Anmeldung des Kindes für einen Betreuungsplatz kein Platz von der zuständigen Stelle zur Verfügung gestellt wird? Der Bundesgerichtshof hatte hierüber im Urteil vom 20. Oktober 2016 – III ZR 278/15 – zu entscheiden.

Beantragung des Betreuungsplatzes

Ab der Vollendung des ersten Lebensjahres, kann bei der Stadt Bedarf nach einem Betreuungsplatz für das eigene Kind angemeldet werden. Dieser Antrag muss rechtzeitig gestellt werden, sodass dem Amt Zeit für die Einrichtung bleibt.

Verdienstausfallschaden 

Welche Möglichkeiten stehen Eltern zu, wenn sie einen Verdienstausfall erleiden, da die Stadt ihnen trotz rechtzeitigem Antrag keinen Platz für das Kind zugewiesen hat?

Der Anspruch des Kindes ergibt sich aus § 24 Abs. 2 SGB VIII. Danach ist das Amt verpflichtet, dem anspruchsberechtigten Kind einen Betreuungsplatz zur Verfügung zu stellen, sofern ein rechtzeitiger Antrag eingeht.

Dabei ist die Stadt auch verpflichtet, ausreichend Plätze zu schaffen oder andere Möglichkeiten der Betreuung des Kindes bereitzustellen. Eine qualifizierte Betreuungsmöglichkeit muss den Eltern im Ergebnis gewährleistet werden können. Eine Berufung auf fehlende Kapazitäten ist somit unzulässig, da für jedes Kind ein Platz bereitgestellt werden muss.

Verdienstausfallschäden der Eltern wegen fehlender Betreuungsplätze sind vom Schutzbereich des § 24 Abs. 2 SGB VIII erfasst. Den Eltern soll die Möglichkeit gegeben werden, eine Erwerbstätigkeit aufzunehmen oder fortzuführen, da auch dies im Sinne des Kindeswohls steht. Dieser Grundsatz ist auch in § 22 Abs. 2 SGB VIII verankert, der sich mit den Förderungsgrundsätzen befasst. Verstöße hierbei werden als Amtspflichtverletzung angesehen.

Amtshaftungsanspruch

Den betroffenen Eltern steht in solchen Fällen ein Amtshaftungsanspruch, aus § 839 Abs. 1 BGB i.V.m. Art. 34 GG zu. Sie können den Verdienstausfallschaden, den sie durch die Amtspflichtverletzung erlitten haben, von der Kommune ersetzt verlangen.

Die Stadt muss für ausreichende Betreuungsplätze vorbehaltlos sorgen und kann auch keine finanziellen Gründe als Rechtfertigung nennen.

Es besteht somit ein Schadensersatzanspruch gegen den Staat oder der von ihm beauftragten Stelle.

Stand: 01.03.2017

Strategisch gute Praxisführung in ärztlichen Kooperationen

Themen wie Gesellschaftervertrag, Mietvertrag, Arbeitsverträge, Gewinnverteilung und steuerliches Kapitalkonto gehören zu den regelmäßigen Fragen, um die sich die Mitglieder ärztlicher Berufsausübungsgemeinschaften von Zeit zu Zeit kümmern sollten, da diese einige Unsicherheiten bieten können.

Die Erfahrung zeigt, dass Ärzte und Zahnärzte ihren Gesellschaftsvertrag, den sie zuweilen – nach dem Erwerb vom Praxisanteilen – von Vorgängern übernommen haben, nicht vollständig verstehen, auch die übrigen Vertragsverhältnisse zur Ausübung ihrer Berufstätigkeit nicht, und sich über alternative Lösungsmöglichkeiten für die Gewinnverteilung oftmals nicht bewusst sind.

1. Lassen Sie Ihren Gesellschaftervertrag von Zeit zu Zeit prüfen

Nicht selten kommt es vor, dass die Mitglieder eine Gemeinschaftspraxis diese ursprüngliche gar nicht selber begründet, sondern ihre heutigen Gesellschaftsanteile von vormaligen Ärzten/Zahnärzten übernommen haben. Gerade in zulassungsgesperrten Gebieten ist es üblich, sich in Arztpraxen „einzukaufen“, wenn ein Kollege aus Altersgründen in Ruhestand gehen möchte.

Teilweise existieren auf diesem Weg noch Gesellschaftsverträge aus den 80er-Jahren fort, die unter damals sehr anderen Verhältnissen formuliert wurden, z.B. eine 3er-Praxis, die heute nur noch von zwei Ärzten fortgeführt wird. Dieser ursprüngliche Gesellschaftsvertrag mag noch eine Klausel enthalten haben, welche „die Fortführung der Gemeinschaftspraxis“ bei Ausscheiden eines seiner Mitglieder vorsieht und dem „ausscheidenden Mitglied“ einen Abfindungsanspruch gegen die „verbliebene Gesellschaft“ zuspricht.

Diese Klausel setzt jedoch voraus, dass auch eine BGB-Gesellschaft fortgesetzt wird, gegen die sich ein solcher Anspruch richten kann: Bleibt jedoch nur noch ein Arzt zurück, kann dieser nicht mit sich selber eine BGB-Gesellschaft begründen.

Der Streit darüber, wie bei altersbedingtem Ausscheiden eines Arztes aus einer solchen Gemeinschaftspraxis zu verfahren ist, lässt sich im Vorfeld durch eine Anpassung des Gesellschaftsvertrages an die geänderten Umstände vermeiden.

Auch nachvertragliche Wettbewerbsklauseln sind ohne Zahlung einer Ausgleichsleistung inzwischen unwirksam.

2. Lassen Sie Ihren Mietvertrag von Zeit zu Zeit prüfen

Ebenso alt wie die Gesellschaftsverträge sind zuweilen auch die Mietverträge, wenn diese z.B. auf eine Dauer von 20 Jahren fortgesetzt wurden, immer wieder durch fortgesetzte Verlängerungsoptionen oder stillschweigende Verlängerungen von Jahr zu Jahr.

Die Gesetzeslage und Rechtsprechung hat sich nicht nur bezüglich der Renovierungsklauseln seitdem erheblich geändert, sondern auch die tatsächlichen Mieterverhältnisse könnten inzwischen an die geänderten Gesellschafterverhältnisse anzupassen sein. Andernfalls wird das Mietverhältnis ggf. nur noch durch einen der Ärzte fortgesetzt, wohingegen der Sozius als im Innenverhältnis gleichberechtigter Gesellschafter nach außen zum Vermieter vertraglich nicht berechtigt ist, sondern die Räume quasi nur als „Untermieter“ seines Kollegen mitnutzt. Bei einem Streit der Ärzte untereinander mag dies zu Problemen führen: Der nicht am Mietvertrag beteiligte Gesellschafter mag befürchten, dass er „vor die Türe gesetzt“ werden könnte. Oder der freiwillig aus einer Gemeinschaftspraxis ausscheidene Arzt bleibt gleichwohl im Verhältnis zum Vermieter weiterhin Gesamtschuldner für den Mietzins.

3. Lassen Sie die Arbeitsverträge mit Ihren Mitarbeitern von Zeit zu Zeit prüfen

Manch langgediente Arzt-/Zahnarzthelferinnen werden noch immer auf Basis schriftlicher Arbeitsverträge beschäftigt, die weder im Hinblick auf Lohn- und Urlaubsansprüche die tatsächlich gelebten Arbeitsverhältnisse zutreffend reflektieren.

Die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs hat sich als teils revolutionärer Motor für das deutsche Arbeitsrecht erwiesen, welches breitflächig traditionell weiniger vom Gesetzgeber, sondern vielmehr von der Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts geprägt wird.

Der seit dem 1.1.2015 in Kraft getretene gesetzliche Mindestlohn wird von allen ärztlichen Arbeitgebern wohl gezahlt. Manch vormals befristete Arbeitsverhältnisse oder frühere Ausbildungsverhältnisse mögen jedoch stillschweigend über den Beendigungszeitpunkt hinaus fortgesetzt worden sein, so dass sich die Frage stellt, ob es eine den Anforderungen des Nachweisgesetzes genügende schriftliche Aufzeichnung der wesentlichen Vertragsbedingungen gibt.

4. Prüfen Sie von Zeit zu Zeit den Modus der Gewinnverteilung

Streit unter beruflich zusammengeschlossenen Freiberuflern entsteht vor allem wegen der Verteilung der erwirtschafteten Gewinne. Sind an einer Gemeinschaftspraxis drei Ärzte zu gleichen Teilen beteiligt, tragen sie zu gleichen Teilen auch deren Kosten und teilen die Gewinne gleichmäßig auf. Arbeiten dann jedoch nicht alle in gleichem Umfang, entsteht eine Schieflage, die sich durch flexible Klauseln in der Gewinnverteilung kompensieren lässt, bevor anhaltende Unzufriedenheit zum Auseinanderbrechen der Praxis führt. Auch spezielle Fortbildungen in Teilbereichen, die zu Ertragssteigerungen führen, können auf diesem Weg honoriert werden. Ebenso kann damit der Unterschied Berücksichtigung finden, dass an einem auswärtigen Zweitsitz der Gemeinschaftspraxis nicht alle Mitglieder gleich häufig arbeiten. Ein Modell für eine 3er-Praxis, an der die drei Ärzte zu gleichen Teilen beteiligt sind, könnte z.B. wie folgt aussehen:

  • Als Vorabgewinn erhält jeder Gesellschafter unabhängig von seiner schlussendlichen Beteiligungshöhe einen festen Gewinnanteil, z.B. 1/6. Diese Tätigkeitsvergütung ist sozusagen die Entlohnung für seine „Mitgliedschaft“ in der Berufsausübungsgemeinschaft und sichert seinen Lebensunterhalt.
    Lediglich der nach Abzug dieser Vorabgewinne verbleibende Restbetrag wird leistungsabhängig zugewiesen.
    Dieses Modell eignet sich auch dann, wenn nicht alle Ärzte zu gleichen Teilen an der Gesellschaft beteiligt sind oder ein jüngerer Arzt hinzugenommen werden soll.)

Der verbleibende Restgewinn kann entweder leistungsabhängig oder nach einem Senioritätsmodell verteilt werden.

Leistungsabhängige Gewinnverteilungen lassen oftmals einen „Kampf um Privatpatienten“ ausbrechen, wohingegen Senioritätsklauseln den Beigeschmack haben, dass die älteren und weniger engagierten Ärzte von der Leistung ihrer jüngeren Kollegen überproportional profitieren. Eine leistungsabhängige Gewinnverteilung hat auch zu berücksichtigen, ob einzelne Gesellschafter der Gemeinschaftspraxis „den Rücken frei halten“ (z.B. erwirtschaftet der konservativ behandelnde Orthopäde weniger als sein operativ tätiger Kollege, rundet aber das Gesamtbild der Praxis ab).

  • Am stabilsten haben sich daher „Mischmodelle“ erwiesen, welche die individuellen Besonderheiten der Gesellschafter passgenau abbilden und von Zeit zu Zeit eine Anpassung erfahren, ohne den Gesellschaftsvertrag in seinen Grundfesten anzutasten.
  • Um die Gemeinschaftspraxis insgesamt möglichst weit voran zu bringen, sollten leistungsabhängige Gewinnverteilungsmaßstäbe nicht fehlen: Je mehr „alle reinhauen“, je mehr sie dazu motiviert sind, desto mehr gibt es am Ende zu verteilen.

5. Prüfen Sie am Jahresende die Kapitalkonten nach

Ein „Kapitalkonto“ ist nicht gleich „Bankkonto“, sondern eine buchhalterische Rechengröße. Das darin enthaltene „Buchkapital“ ist die Summe der Vermögenswerte (Anlagevermögen, Bankkonten) abzüglich aller Verbindlichkeiten (z.B. Bankdarlehen). Es spiegelt somit nur den steuerlichen, nicht aber den wirtschaftlichen Wert einer Arztpraxis wieder (der auch durch den Goodwill gebildet wird), sozusagen das „steuerliche Nettovermögen“.

Wenn für jeden Gesellschafter ein eigenes Kapitalkonto geführt wird, entspricht die Summe dieser Konten dem steuerlichen Kapital der Praxis.

Außerordentliche Gewinnentnahmen oder Einlagen, um die Liquidität der Praxis zu sichern, verändern die Kapitalkonten.

Eine Schieflage entsteht am Jahresende dann, wenn die Kapitalkonten im Verhältnis zueinander nicht mehr den Gesellschaftsverhältnissen entsprechen. Erreicht das Kapitalkonto eines Gesellschafters am Jahresende nicht die Höhe seiner Vermögensbeteiligung, so hat er offenbar eine zu hohe Privatentnahme getätigt und muss an die Gesellschaft zurückzahlen. Andernfalls, setzt sich diese Schieflage über Jahre unerkannt fort, könnte beim Praxisverkauf Streit über die Verteilung des Kaufpreises entstehen.

Stand: 07.11.2016

Berufsunfähigkeit – das Problem der Nachweisbarkeit bei psychischer Erkrankung

Berufsunfähigkeit ist keine Seltenheit und immer mehr Menschen wollen sich dagegen schützen. Bei Fällen wie einer Querschnittslähmung ist der Fall unproblematisch, aber was ist mit psychischen Erkrankungen? Psychische Erkrankungen wie Depressionen oder Psychosen sind längst wissenschaftlich anerkannt, doch trotzdem scheint es schwer, diese als ausreichenden Grund einer Berufsunfähigkeit einzubringen. Wie kann das sein?

Der ausschlaggebende Zeitpunkt für den Eintritt der Berufsunfähigkeit ist der, ab welchem der Betroffene nicht mehr in der Lage ist seinen Beruf weiter auszuüben. Das bedeutet, dass ein Arzt nachweisen muss, dass der Betroffene in den nächsten 6 Monaten nur noch höchstens die Hälfte seiner bis jetzt ausgeübten Tätigkeit ausführen kann. Doch dieser Nachweis ist bei psychischen Störungen schwer vorzubringen, da die Bewertung des Krankheitsbildes komplexer und schwieriger ist als bei körperlichen Verletzungen. Es fehlt einfach an objektiven Fakten und damit an der der physiologischen Nachvollziehbarkeit, wenn sich die Messergebnisse auf die Angaben des Betroffenen und der Beobachtung seines Verhaltens basieren. Diese subjektiven Einschätzungen können Zweifel offenlassen und bieten dadurch eine große Angriffsfläche.

Der Fall – OLG Bremen, Urteil vom 25.6.2010 (3 U 60/09)

In einer solchen Situation befand sich ein klagender Justizvollzugsbeamter: Während einer körperlichen Auseinandersetzung mit einem Häftling zog er sich blutende Wunden zu. Der Kläger befürchtete, sich mit dem HIV-Virus infiziert zu haben und war fürs erste krankgeschrieben. Der Vorfall hatte ihn so sehr belastet, dass er in eine schwere Depression fiel und unter posttraumatischen Belastungsstörungen litt. Dies hatte zur Folge, dass er nicht weiterarbeiten konnte und die Zahlung der Berufsunfähigkeitsrente beantragte.

Der Sachverständige diagnostiziert bei dem Kläger keine posttraumatische Belastungsstörung, sondern vielmehr ein ausgeprägtes phobisches Angstsyndrom. Es handle sich um eine Angsterkrankung, die chronisch werden kann, wenn der Kläger sich weiter auf seine Angst konzentriert. Er führt weiter aus, dass der Kläger somit seinen Beruf als Justizvollzugsbeamter nicht weiter ausüben kann, insbesondere weil bei seiner Tätigkeit ausgeprägten Panikattacken und Angstzuständen nicht auszuschließen sind. Seiner Meinung nach liegen außerdem klare Hinweise dafür vor, dass die psychischen Beeinträchtigungen des Klägers im zeitlichen Zusammenhang mit dem Vorfall stehen.

Die Beschwerdeschilderung und Symptombildung ist typisch und charakteristisch für ein phobisches Angstsyndrom.

Der Senat hält die Ausführungen des Sachverständigen für nachvollziehbar und überzeugend.

Der Beklagte weist auf die vermeintlich schwammigen Formulierungen im Gutachten des Sachverständigen hin, das eine Berufsunfähigkeit nicht nachweisen lässt. Doch der Senat ist davon sichtlich unbeeindruckt und verlässt sich auf die Diagnose des Sachverständigen, insbesondere da dieser nicht nur von Wahrscheinlichkeiten redet, sondern überzeugt von der Erkrankung des Klägers ist.

Fazit

Nach der Rechtsprechung des BGH können psychisch Erkrankte also aufatmen: Die Diagnose eines Arztes basierend auf der Schilderung der Beschwerden des Klägers kann ausreichen. Damit sind psychiatrische Erkrankungen wie z.B. Depressionen bei überzeugender Begründung Grund genug für eine Berufsunfähigkeit, obwohl sie nicht objektivierbar sind.

Stand: 13.09.2016

Landgericht Köln stärkt Minderjährigenschutz nach Verkehrsunfällen

Das Landgericht Köln hat im Berufungsurteil 13 S 129/15 vom 13.1.2016 unter Vorsitz seines Präsidenten Ketterle den Schutz Minderjähriger nach Verkehrsunfällen gestärkt.

Was war passiert ?

Ein 15-jähriger Realschüler der 9.Klasse lief nach Schulschluss um die Mittagszeit zur Bushaltestelle, um mit dem Schulbus nach Hause zu fahren. Auf diesem Weg wurde er an einer Fußgängerampel von einem BMW gestreift, an dem ca. 1.500,- € Sachschaden entsteht. Der BMW-Fahrer behauptete gegenüber der eintreffenden Polizei, er habe grün gehabt. Der Schüler räumte gegenüber der Polizei auf Befragen ein, dass er nicht auf die Ampel geachtet habe, da er schnell zu seinem Bus auf der anderen Straßenseite gelangen wollte.

Die Polizeibeamten hielten diese Aussage so im Unfallprotokoll fest und notiert darin den 15-jährigen als Unfallverursacher. Der BMW-Fahrer klagte sodann beim Amtsgericht Brühl seinen Kfz-Schaden gegen den Schüler gestützt auf diese polizeiliche Protokollierung ein. Das Amtsgericht vernahm die Polizeibeamten in der mündlichen Verhandlung zu der Aussage des 15-jährigen am Unfallort und gab der Klage statt (AG Brühl, Urteil vom 11.6.2015 – 21 C 140/14). Ein Beweisverwertungsverbot sah das Amtsgericht zu den Aussagen des Schülers nicht. Das Landgericht Köln hob das erstinstanzliche Urteil auf und weist die Klage ab.

Warum?

Es geht um den Minderjährigenschutz bei der polizeilichen Vernehmung nach einem Verkehrsunfall. Aus den Ausführungen von Urteilsseite 3 des Berufungsurteils lassen sich folgende Rechtssätze entnehmen:

  1. Soll ein 15-jähriger Minderjähriger von der Polizei nach einem Verkehrsunfall als Unfallverursacher vernommen werden, ist zur späteren Verwertbarkeit seiner Aussage zumindest erforderlich, dass er zuvor von den Polizeibeamten gem. § 67 JGG auch darüber belehrt wird, dass er vor einer Aussage das Recht habt, seine Personensorgeberechtigten zu kontaktieren.
  2. Diese gesetzliche Regelung beruht auf der kriminologisch gesicherten Erkenntnis, dass jugendliche Beschuldigte gegenüber Erwachsenen eine deutlich höhere „Geständnisfreudigkeit“ aufweisen, also in geringerem Umfang in der Lage sind, auch bei ansonsten korrekter Belehrung über das Schweigerecht von ihrer Aussagefreiheit dahingehend Gebrauch zu machen, auf Angaben zur Sache möglicherweise zu verzichten.
  3. Unterbleibt eine solche Belehrung im Ordnungswidrigkeitenverfahren, führt dies auch zu einem Beweisverwertungsverbot im Zivilprozess.

Diesen Fehler hatten die Polizeibeamten nämlich begangen, was auch auf den Schadensersatzprozess durchschlug. Der 15-jährige hatte noch nicht einmal das Mindestalter des § 455 Abs.2 ZPO von 16 Jahren erreicht, ab dem Minderjährige selber im Rahmen einer Parteivernehmung zu dem Unfallhergang vernommen werden konnten.

Das Landgericht brauchte zwar nicht zu entscheiden, ob diese Vorschrift im vorliegenden Fall eine Sperrwirkung für die Verwertung der Angaben des Schülers gegenüber der Polizei entfaltete; es hat aus § 455 Abs.2 ZPO jedoch eine „Interessenabwägung“ hergeleitet: Da der 15-jährige von der Polizei nicht einmal darüber belehrt worden war, dass er vor einer Aussage das Recht habe, seine (alleinerziehende) Mutter zu kontaktieren, ist seine vom Amtsgericht als Schuldeingeständnis gewertete Einlassung gegenüber der Polizei nicht verwertbar gewesen.

Da es weitere Zeugen zugunsten des BMW-Fahrer nicht gab, stand im Prozess Aussage gegen Aussage und wurde die Klage wegen Beweisfälligkeit des Klägers („non licet“) somit abgewiesen.

Der Amtsrichter ist ziemlich restriktiv an das Verfahren herangegangen. Zunächst hat er dem 15-jährigen Beklagten sogar Prozesskostenhilfe verwehrt (AG Brühl, Beschluss vom 19.3.2015 – 21 C 140/14). Das Landgericht Köln hatte diese Entscheidung zuvor jedoch bereits aufgehoben und dem PKH-Antrag stattgegeben (LG Köln, Beschluss vom 16.4.2015 – 13 T 25/15). Dies muss den Amtsrichter wohl „verstimmt“ haben. Denn die Basis der erstinstanzlichen Verurteilung war doch schon recht dünn.

Solche Vorgänge (Verkehrsunfälle mit Minderjährigen; diese äußern sich sodann spontan gegenüber der Polizei) können immer wieder vorkommen. Das Landgericht Köln räumt ein für alles mal damit auf, dass die Polizei solche „Geständnis“ überhaupt verwerten darf, wenn vorher nicht die Eltern zugezogen wurden.

Stand: 28.01.2016