Zum Fortsetzungsfeststellungsinteresse im Verwaltungsgerichtsprozess

Anmerkung zum Beschluss des Bundesverwaltungsgerichts 6 B 15.20 vom 07.04.2020

Der Beschluss des Bundesverwaltungsgerichts verdeutlicht eine grundsätzliche Schwachstelle der Verwaltungsgerichtsordnung. Anders als im Zivilprozess, wo nach Eintritt eines erledigenden Ereignisses eine (rechtsmittelfähige) Kostenentscheidung gem. § 91a ZPO ergeht, die zu begründen ist, sieht § 161 Abs. 2 VwGO keine Begründungsnotwendigkeit vor, sondern nur eine billige Kostenentscheidung.

Es kommt nicht nur im Einzelfall vor, dass sich entweder in erster oder zweiter Instanz Verwaltungshandeln als unrechtmäßig erweist. Die Verwaltung erfährt sodann jedoch die „Gnade“ seitens des Verwaltungsgerichts, dass dieses seine Rechtsauffassung darlegt und der Beklagten anheimstellt, die erforderlichen prozessualen Veranlassungen nachzuholen. Kommt die Verwaltung dem nach, entfällt das Rechtsschutzbedürfnis für die Klage, um welche Klageart auch immer es sich handeln mag. Der Beklagtenseite wird im Verwaltungsgerichtsprozess auf diesem Weg eine Niederlage erspart bzw. ermöglicht, sich gesichtswahrend aus dem Verfahren zurückzuziehen, indem sie schlussendlich diejenige Handlung vornimmt, zu der sie von Anfang an verpflichtet war.

Den klagenden Bürger bringt dies in eine missliche Situation. Gibt er daraufhin eine Erledigungserklärung ab, hat das Verwaltungsgericht nur noch über die Kosten des Rechtsstreits zu entscheiden, wobei diese Kostenentscheidung unanfechtbar ist und einer Begründung nicht bedarf. Es kommt im Einzelfall auch vor, dass der klagende Bürger zwar Recht hatte und dies durch die späteren Hinweise des Verwaltungsgerichts und die faktische Erfüllungshandlung der Verwaltung nach Rechtshängigkeit auch belegt ist. Gleichwohl überbürdet ihm das Gericht – aus Gründen, die er nie erfahren wird – die Kosten des Rechtsstreits auf.

Zuweilen besteht jedoch nicht nur ein Bedürfnis, den vorliegenden Einzelfall vor Gericht zu tragen, sondern auch, eine Präzedenzentscheidung zu erstreiten. Dafür ist die Verwaltungsgerichtsordnung jedoch denkbar ungeeignet bzw. wurde bewusst so gefasst, dass dies nur unter äußerst erschwerten Bedingungen möglich ist. Gibt der Kläger nämlich die Erledigungserklärung nicht ab, sondern stellt die Klage auf Fortsetzungsfeststellungsklage um, gelingt ihm dies nur unter den Voraussetzungen, dass er als Fortsetzungsfeststellungsinteresse weiterhin Schadensersatzansprüche verfolgen könnte, eine Wiederholungsgefahr droht, er ein Rehabilitationsinteresse hat oder ein tiefgreifender und unerträglich schwerer Grundrechtseingriff vorlag. Alle vier Kriterien werden von der Rechtsprechung jedoch äußerst eng ausgelegt, sodass sie höchst selten erreicht werden können. Weder der Gesetzgeber noch die Verwaltungsgerichte schätzen Fortsetzungsfeststellungsklagen. Der Gesetzgeber wollte ganz gezielt verhindern, dass Präzedenzentscheidungen gegen die Verwaltung ergehen, welche diese in zukünftigen Fällen binden könnten. Die Verwaltungsgerichte schätzen es angesichts ihrer ständigen Überlastung, wenn sie statt eines Fortsetzungsfeststellungsurteils lediglich einen unbegründeten Kostenbeschluss absetzen brauchen.

Man könnte auch sagen: Unter der bestehenden VwGO kommt die Verwaltung „billig davon“. Sie lässt sich einfach verklagen und ca. zwei Jahre später, wenn die überlasteten Verwaltungsgerichte erstmals dazu kommen, die Sache mündlich zu terminieren, erklären sie in der Hauptverhandlung aufgrund der richterlichen Hinweise ein Anerkenntnis, wobei gegen sie anders als gem. § 307 ZPO im Zivilprozess kein Anerkenntnisurteil ergehen kann. Die Verwaltung kann so gesehen „nie verlieren“, wenn sie dies nicht möchte. Sie kann sich stets über eine Anerkennung der Klageansprüche aus dem Verfahren davonschleichen, ohne das ein veröffentlichungsfähiges Urteil ergeht, solange der Bürger nicht ein überzeugendes Interesse (Fortsetzungsfeststellungsinteresse) darlegen kann, den Rechtsstreit über diesen Zeitpunkt hinaus noch fortzuführen.

 

Zuweilen besteht jedoch das Bedürfnis, genau ein solches Urteil – gegen alle Widerstände; vor allem des Verwaltungsgerichts – dennoch zu bekommen, um zumindest aufzeigen zu können, wer bis zum Zeitpunkt des erledigenden Ereignisses im Recht war und um sich für zukünftige Fälle davor zu schützen, dass die Exekutive ihr streitgegenständliches Verhalten wiederholt. Der Bürger erreicht dies nur, wenn er auf Fortsetzungsfeststellungsklage umstellt, denn nur so bringt er das Verwaltungsgericht zumindest in die Rolle ähnlich eines Notars, der in dem Fortsetzungsfeststellungurteil den Verlauf der vorgerichtlichen und gerichtlichen Auseinandersetzung protokolliert, auch wenn es dann im Tenor auf Klageabweisung entscheidet und dem Kläger die Kosten überbürdet. Er kann auf diesem Weg zumindest eine veröffentlichungsfähige Entscheidung herbeiführen, aus der hervorgeht, dass er zumindest bis zum Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung Recht hatte und sich dies auch zukünftig wieder so verhalten wird.

Dass ihm gleichwohl die Kosten auferlegt werden, ist zwar ärgerlich. Hierfür müsste die Verwaltungsgerichtsordnung jedoch an einer empfindlichen Stelle geändert werden, was die Verwaltung auf dem Weg ihrer Einflussnahme auf den Gesetzgeber zu verhindern wissen wird. Als Trostpflaster beleibt jedoch, dass die Kosten vor dem Verwaltungsgericht gemeinhin deutlich geringer ausfallen, als in der Zivilgerichtsbarkeit, da die allermeisten Rechtsstreite nach dem Auffangstreitwert von 5.000 Euro gem. § 52 Abs. 2 GKG bemessen werden, woran sich der Streitwertkatalog für die Verwaltungsgerichtsbarkeit orientiert. Kosten für die Verwaltung treten regelmäßig kaum auf, da sich diese durch verbeamtete oder angestellte Volljuristen in den Verfahren selber vertritt und allenfalls die Reisekosten als Auslagen zur Kostenerstattung angemeldet werden können. Außerdem bewegen sich die erstinstanzlichen Gerichtskosten bei einem Streitwert vom 5.000 Euro gerade mal bei 438 Euro für drei GKG-Gebühren gem. KV 1210, sodass klagende Bürger, die an einem gerichtlichen Urteil gleichwohl interessiert sind, es eher verkraften werden, diese vergleichsweise geringen Kosten eines verwaltungsgerichtlichen Rechtsstreits abzuschreiben, als auf eine Sachentscheidung zu verzichten.

 

Im vorliegenden Fall war der Versuch unternommen worden, die vier vorbezeichneten Kriterien der Fortsetzungsfeststellungsklage (Schadensersatzinteresse, Wiederholungsgefahr, tiefgreifender Grundrechtseingriff oder Rehabilitationsinteresse) um einen fünften Aspekt zu erweitern, indem der Rechtsgedanke aus dem Entschädigungsrecht bei überlangen Gerichtsverfahren aus § 198 Abs. 4 S. 1 GVG herangezogen wurde, der eine „Wiedergutmachung auf andere Weise“ ermöglicht. Weder das Oberverwaltungsgericht Münster, noch das Bundesverwaltungsgericht sind diesen Weg jedoch mitgegangen, indem sie sich auf das formale Argument zurückgezogen haben, dass es in der VwGO keine Regelungslücke gebe, welche eine analoge Anwendung von § 198 GVG gestatte.

Dies ist im Ergebnis zwar vertretbar. Das Bundesverwaltungsgericht vergibt mit dieser Rechtsprechung jedoch die Chance, den Kanon der bestehenden vier ausschließlichen Fallgruppen für das Fortsetzungsfeststellungsinteresse zu erweitern bzw. an heutige Gegebenheiten anzupassen. Rechtsstreite, nicht nur, aber auch in der Verwaltungsgerichtsbarkeit, dauern immer länger. Wenn es der Verwaltung gestattet wird, durch die Verweigerung rechtmäßigen Verhaltens den Bürger nicht selten Jahre lang von seinen Rechten zu entfremden, ihr dann jedoch gleichwohl das Schlupfloch offengehakten wird, es sich bis zum Schluss der mündlichen Verhandlung noch anders überlegen zu dürfen und das Klageinteresse damit zu vernichten, bleibt ein schaler Geschmack zurück.

Materielle Gerechtigkeit erstreckt sich nicht nur auf den Einzelfall; sie muss das übergeordnete Ziel jeden Gerichtsverfahrens und Urteilsspruchs bleiben. Vor dem Hintergrund des vorliegenden Beschlusses sollte rechtspolitisch darüber nachgedacht werden, dass Fortsetzungsfeststellungsinteresse ganz allgemein zu erweitern und auch auf solche Fallgruppen zuzulassen, in denen der Kläger schlicht und ergreifend lediglich ein Interesse an der Entscheidung aus Präzedenzgründen vorträgt.

Manche mögen einwenden, dass die Verwaltungsgerichte hierdurch weiter in eine schon jetzt nicht mehr zu bewältigende Arbeitsbelastung hineingetrieben würden. Andere mögen diese Idee ablehnen, weil sich der VwGO-Prozess damit zu einer Objektivierung des Rechtsschutzes hin verschieben würde, was die Gewaltenteilung zwischen Exekutive und Judikative in eine Schieflage bringen würde, wenn gegen die Verwaltung aus einer Art „Allgemeininteresse“ heraus objektive bzw. objektivierte Urteile ergingen, welche eine gewisse Präzedenzwirkung für zukünftige Fälle haben können.

Präzedenzentscheidungen strukturieren die Rechtsordnung in der heutigen Zeit nahezu genauso, wie Parlamentsgesetze. Sie werden jedenfalls in sehr ähnlicher Weile in Bezug genommen und zitiert. Die Verwaltung will dies jedoch augenscheinlich jedoch nicht und die Verwaltungsgerichte haben, wenn auch aus anderen Gründen, hieran ebenfalls kein übermäßiges Interesse. Es sollte somit darüber nachgedacht werden, die Fortsetzungsfeststellungklage mit allen anerkennungsfähigen Interessen zur Fortsetzung eines Rechtsstreits in der VwGO gesondert zu kodifizieren und verstärkt die Möglichkeit zuzulassen, Feststellungsentscheidungen auch für die Vergangenheit auszusprechen.

Versicherungsschutz bei Betriebsschließungen im Fall Corona

Durch die derzeitige Schließung vieler Einzelhandelsbetriebe aufgrund der „Verordnung zum Schutz vor Neuinfizierungen mit dem Coronavirus SARS-CoV-2“ vom 22.03.2020 blicken viele Unternehmen auf einen Berg von ungedeckten Kosten, die von Miete, über zu zahlende Gehälter bis hin zum Ausbleiben von Gewinn reichen. In diesem Zusammenhang sind zwei Versicherungstypen zu nennen, die einen Schutz bieten könnten.

Betriebsunterbrechungsversicherung

Auf der einen Seite steht dabei die Betriebsunterbrechungsversicherung oder auch Ertragsausfallversicherung. Diese bietet zwar für den Fall einer Betriebsunterbrechung, die auf einem versicherten Ereignis beruht und zum Ertragsausfall des Unternehmens geführt hat, einen Versicherungsschutz, doch wird in den meisten Fällen auf einen Sachschaden Bezug genommen. Dieser wird im Falle einer Infektionsschutzmaßnahme zumeist fehlen. Zwar kommt dies auf den Einzelfall des Vertrags an, da es auch einzelne weiter gefasste Versicherungsschutzbereiche gibt, doch muss dazu zumeist das Risiko der Seuchen- bzw. Infektionskrankheit ausdrücklich benannt sein.

Betriebsschließungsversicherung

Auf der anderen Seite bietet die im Gastronomie-Bereich häufig abgeschlossene Betriebsschließungsversicherung eine Möglichkeit. Gegenstand dieser Versicherung ist, dass der versicherte Betrieb durch behördliche Anordnung aufgrund einer nach dem Infektionsschutzgesetz meldepflichtigen Krankheit, Einbußen in Form von Mehrkosten für z.B. Desinfektion der Betriebsräume oder gar eine Betriebsschließung erfährt. Vorliegend handelt es sich, durch die vom Ministerium für Arbeit, Gesundheit und Soziales des Landes NRW erlassene Verordnung vom 22.03.2020, unzweifelhaft um eine behördliche Anordnung. Zudem ist das SARS-CoV-2 Virus zwar nicht namentlich in den §§ 6,7 IfSG als meldepflichtig aufgeführt, wurde aber durch die „Verordnung über die Ausdehnung der Meldepflichtigkeit“ vom 30.01.2020 mit aufgenommen. Somit sind damit die Voraussetzungen grundsätzlich erfüllt. Dennoch stellen sich nun einige Versicherungen auf den Standpunkt, dass das Coronavirus zur Zeit des Vertragsschlusses nicht Geschäftsgrundlage gewesen ist. Auch wenn dazu natürlich eine genaue Betrachtung des einzelnen Vertrags notwendig ist, wird diese Ansicht in den wenigsten Fällen überzeugend sein. Dabei muss in Bezug auf die einzelnen Verträge unterschieden werden zwischen solchen, die innerhalb der Police spezifisch Bezug auf die §§ 6,7 IfSG nehmen und solche, die nur allgemein Bezug auf diese nehmen.

Spezifischer Verweis auf das IfSG

Verweist die Police spezifisch auf §§ 6,7 IfSG so ist davon auszugehen, dass die Fortentwicklung sprachlich mit einbezogen ist. Auch wenn dies zwar im Einzelfall zu entscheiden ist, ist dort wo direkter Bezug auf Gesetzesmaterie spezifisch genommen wird, davon auszugehen, dass die Dynamik und Fortentwicklung dessen mit einbezogen ist.

Unspezifischer Verweis durch Aufzählung der Krankheiten

Im Falle einer unspezifischen Bezugnahme auf die Materie des §§ 6,7 IfSG, z.B. durch die direkte Übernahme des zum Zeitpunkt des Vertragsschlusses vorliegenden Katalogs ohne unmittelbare Verweisung auf das Gesetz, kann sich der Versicherer zwar auf den Standpunkt stellen, dass das Coronavirus nicht Vertragsbestandteil gewesen ist, wenn die Versicherung vor Ausbruch des Virus abgeschlossen worden ist. Doch bringt in diesem Fall ein Blick auf den Katalog Aufschluss. So vermittelt dieser den Eindruck vollständig zu sein. Besonders im Hinblick auf den durchschnittlichen Verbraucher, der nur ein laienhaftes Verständnis von möglichen Krankheitsbildern mitbringen wird, ist von diesem nicht zu verlangen, diesen als abschließend zu betrachten. Jede neu ausbrechende Krankheit, die es de facto zum Vertragsschluss noch nicht gegeben hat, als nicht einbezogen zu betrachten, läuft dem zuwider, was der Versicherte erwarten kann, wenn er sich gegen die Beeinträchtigung seines Betriebs aufgrund meldepflichtiger Krankheiten versichert. Erneut ist zwar eine spezifische Betrachtung des Einzelvertrags notwendig, doch erscheint die Begründung, dass Corona an sich nicht zur Geschäftsgrundlage im Zeitpunkt des Vertragsschlusses gehört hat, als eher nicht zutreffend.

Öffentliche rechtliche Ansprüche und Leistungen

Zum anderen kann im bestimmten Fall der Staat bereits zur Entschädigung verpflichtet sein, sodass diese öffentlich-rechtlichen Entschädigungsansprüche vorrangig in Anspruch genommen werden müssen. Zwar ist in Anbetracht der Situation, die so eben noch nicht vorgelegen hat, unklar, ob auch staatliche Unterstützungsleistungen vorrangig in Anspruch zu nehmen sind, doch sollte zum jetzigen Zeitpunkt jede Möglichkeit ausgeschöpft werden. In Betracht kommen Bestimmungen des Infektionsschutzgesetzes wie § 56 IfSG oder eventuell der Anspruch aus enteignendem Eingriff. Bezüglich der staatlichen Fördermaßnahmen ist vor allem der vor kurzem durch das Bundeswirtschaftsministerium vorgestellte „Schutzschild für Beschäftigte und Unternehmen“ zu nennen. Durch diesen wird vor allem die Inanspruchnahme des Kurzarbeitergeldes erleichtert. So kann dies schon beantragt werden, wenn 10 % der Beschäftigten vom Ausfall betroffen sind. Zudem erstattet die Bundesagentur für Arbeit die Sozialversicherungsbeiträge. Ferner kann beantragt werden die Frist für fällige Steuern, die dieses Jahr nicht gezahlt werden können, zu verlängern. Beantragt werden muss dies beim zuständigen Finanzamt. Der Antrag dazu wird auf der Internetseite der IHK München zur Verfügung gestellt.

Pflichten des Versicherungsnehmers im Schadensfall

Bezüglich der Geltendmachung gegenüber der Versicherung, die am besten gleichzeitig zur Beantragung/Geltendmachung gegenüber dem Staat geschieht, ist vor allem der individuelle Vertrag zu beachten und was dieser vorschreibt. Alle Policen werden aber gemeinsam haben, dass der Schaden unverzüglich gemeldet werden muss. Zu dieser sollte eine schriftliche Bestätigung der Behörde bezüglich der Maßnahmen beigefügt werden. Im Fall Corona wird die Rechtsverordnung des Ministeriums für Arbeit, Gesundheit und Soziales des Landes NRW, durch die Aktualität der Materie, genügen. In der Schadensmeldung selbst sollte der Schaden so genau wie möglich aufgelistet werden. So sollten die Kosten der Gehälter, der Miet- oder Pachtkosten usw. und eine Berechnung des ausbleibenden durchschnittlichen Gewinns beigefügt werden. Dazu sollte am besten der zuständige Sachbearbeiter hinzugezogen werden oder die Online-Schadensmeldungen der Versicherungen in Anspruch genommen werden.

Zusammenfassung

Insgesamt ist der Versicherungsvertrag in jeder Hinsicht individuell zu betrachten, also ob die Versicherung Schutz im Fall Corona gewährt, was im Schadensfall genau zu tun ist und vor allem welche Kosten gedeckt sind. In jedem Fall ist aber rasches Handeln zu empfehlen. Zudem sollte sich zeitgleich mit der Behörde in Kontakt gesetzt werden, ob Anspruch auf staatliche Hilfe besteht, oder sogar ein Anspruch gegen den Staat. Sollten bezüglich aller genannten Vorgänge Probleme oder Ungereimtheiten bestehen, so empfiehlt sich die Rücksprache mit einem Anwalt.

Ein Beitrag von Denis Eistert.

 

Staatlich angeordnete Quarantäne bei Corona-Infektion

Darf der Staat seine Bürger bei Corona-Infektion in Quarantäne nehmen?

Die staatlichen Befugnisse ergeben sich in diesem Fall aus dem Infektionsschutzgesetz – kurz IfSG. Die Rechtsgrundlage für eine behördlich angeordnete Quarantäne bildet § 30 Abs. 1 IfSG. Eine Quarantäne kann sogar auch zwangsweise durchgesetzt werden. Die zwangsweise Durchsetzung wird auf § 30 Abs. 2 IfSG gestützt.

Das Infektionsschutzgesetz

Bei der Anordnung von Quarantäne handelt es sich um eine „Maßnahme[…] gegen gemeingefährliche oder übertragbare Krankheiten“ im Sinne des Art. 74 Abs. 1 Nr. 19 GG und somit um einen Gegenstand der konkurrierenden Gesetzgebung. Von dieser Gesetzgebungskompetenz hat der Bund für das am 1. Januar 2001 inkraftgetretene Infektionsschutzgesetz Gebrauch gemacht. Es handelt sich dabei also um ein Bundesgesetz.

Zweck des Infektionsschutzgesetzes ist es gem. § 1 Abs. 1 IfSG, übertragbaren Krankheiten beim Menschen vorzubeugen, Infektionen frühzeitig zu erkennen und ihre Weiterverbreitung zu verhindern.

Vereinbarkeit mit höherrangigem Recht

Außer Frage steht, dass die Unterbringung in Quarantäne – vor allem, wenn diese zwangsweise erfolgt – für die Betroffenen eine Entziehung der grundrechtlich und durch die EMRK garantierten Freiheit bedeutet. Es handelt sich also um den Eingriff in ein hochrangiges Rechtsgut. Bei einer Unterbringung in Quarantäne wird der Alltag der Betroffenen – nicht nur im Job – völlig auf den Kopf gestellt. Für eine Freiheitsentziehung, um die Verbreitung ansteckender Krankheiten zu verhindern – was die Quarantäne zwangsläufig darstellt – ist nach Art. 5 Abs. 1 S. 2 e) EMRK auch keine richterliche Entscheidung erforderlich. Bei einer Abwägung der Grundrechte steht die Freiheit gem. Art. 2 Abs. 2 S. 2 GG der infizierten oder vermeintlich infizierten Person dem Recht auf körperliche Unversehrtheit Art. 2 Abs. 2 S. 1 Var. 2 GG und je nach Erkrankung sogar dem Recht auf Leben gem. Art. 2 Abs. 2 S. 1 Var. 1 GG derer gegenüber, die ansonsten der Gefahr einer Ansteckung ausgesetzt sind. Hierbei überwiegen die Rechte Letzterer, wobei auch die Volksgesundheit als Gut von Verfassungsrang zu berücksichtigen ist.

Schadensersatz für Verdienstausfall durch Quarantäne

Bei einer Unterbringung wird der berufliche Alltag maximal auf den Kopf gestellt. Dabei stellt sich die nicht selten unerhebliche Frage, ob man den entstandenen Schaden ersetzt bekommt. Ein berufliches Tätigkeitsverbot für Infizierte und mögliche Überträger stützt sich auf § 31 S. 1 IfSG. Wer nach einem demnach ausgesprochenen Tätigkeitsverbot einen Verdienstausfall erleidet, erhält einen nach § 56 IfSG bemessenen Ersatz des dadurch entstandenen Schadens.

Der Arbeitnehmer hat gegen seinen Arbeitgeber für eine Dauer von sechs Wochen gem. § 56 Abs. 5 S. 1 IfSG einen Anspruch auf Lohnfortzahlung. Der Arbeitgeber kann diesen Betrag binnen drei Monaten gem. § 56 Abs. 11 S. 1 IfSG zur Erstattung bei der zuständigen Behörde anmelden (in NRW der Landschaftsverband).

 

Ein Beitrag von Nele Kesner.

Tagelange Migräneanfälle, aber trotzdem nicht berufsunfähig?

Arbeitnehmer aufgepasst:

Mehrere mehrstündige Migräneanfälle pro Woche führen laut dem Oberlandesgericht Düsseldorf (am 23.03.2018, Az.: I-4 U 110/16) nicht zur Berufsunfähigkeit.

Dies schließt das Gericht aus der Formulierung der Versicherungsbedingungen. Diese sind bei Berufsunfähigkeitsversicherungen typischerweise so gestaltet, dass sie den versicherten Fall möglichst eng eingrenzen. Laut den in diesem Fall zu betrachtenden Versicherungsbedingungen tritt eine Berufsunfähigkeit ein, wenn die versicherte Person über einen Zeitraum von sechs Monaten außerstande ist, ihren zuletzt ausgeübten Beruf auszuüben.

Der Leidensweg der Klägerin:

Die Versicherte und Klägerin war als Dialyse-Krankenschwester tätig und litt zum Zeitpunkt der Antragsstellung auf Berufsunfähigkeitsrente an durchschnittlich zweimal wöchentlich auftretenden Migräneanfällen mit Wahrnehmung von Doppelbildern und zusätzlichem Spannungskopfschmerz. Diese Anfälle hatten eine durchschnittliche Dauer von ein bis zwei Tagen. Während der Dauer dieser Anfälle war die Klägerin außerstande, ihren Beruf, welcher Konzentration und uneingeschränktes Sehvermögen ohne das Erscheinen von Doppelbildern voraussetzt, auszuüben. In Zeitfenstern, in denen die Symptome der latent vorhandenen Migräneerkrankung nicht auftraten, war sie jedoch uneingeschränkt in der Lage, ihrem Beruf nachzugehen.

Was heißt „ununterbrochen“?

Und genau darin liegt für das Oberlandesgericht Düsseldorf der Grund dafür, den Anspruch der Klägerin gegen ihre Versicherung auf Zahlung einer Berufsunfähigkeitsrente abzulehnen. Die Bedingungen für die Berufsunfähigkeit seien demnach nur bei einer ununterbrochenen Unfähigkeit zur Berufsausübung gegeben. Da sich bei der Klägerin solche Phasen mit solchen der uneingeschränkten Leistungsfähigkeit und Belastbarkeit abwechselten, sei das Kriterium der ununterbrochenen Unfähigkeit der Berufsausübung gerade nicht gegeben.

Durch Auftreten zwischenzeitlicher Phasen ohne das Vorliegen leistungsherabsetzender Symptome seien somit anspruchsbegründende Bedingungen aus dem Versicherungsvertrag nicht erfüllt und der Anspruch auf Berufsunfähigkeitsrente nicht entstanden.

Vertragsbedingungen nicht zu beanstanden

Die Aufnahme von Bedingungen mit dieser Formulierung in Versicherungsverträge sei nach Auffassung des Gerichts auch nicht zu beanstanden, da sie nicht ungewöhnlich und damit für den Versicherungsnehmer auch nicht überraschend sei. Unter der Berufsunfähigkeit würde auch von durchschnittlichen Versicherungsnehmern ein dauerhafter Zustand verstanden, in dessen Zeitraum der Beruf nicht ausgeübt werden kann.

Eine Abweichung von diesem Verständnis ergebe sich lediglich, wenn das Zeitfenster, in denen der Versicherungsnehmer uneingeschränkt leistungsfähig war, im Vergleich zu denen, in welchen er unfähig war, seinen Beruf auszuüben, verschwindend gering ist. Dies wäre beispielsweise dann der Fall, wenn der Versicherungsnehmer innerhalb des geforderten Zeitraums von sechs Monaten nur einmal uneingeschränkt fähig war, seinem Beruf nachzugehen.

Mit seinem Berufungsurteil vom 23.03.2018 hob das Oberlandesgericht Düsseldorf das Urteil des Landgerichts Duisburg vom 27.05.2016 auf, welches der Versicherten Recht gab und ihr den Anspruch zugestand.

Hinweis für Versicherte:

Reflektieren Sie vor Antragstellung bei Ihrer Berufsunfähigkeitsversicherung, ob die von Ihnen dargestellten Erkrankungen Ihr Beschwerdebild in allen Einzelheiten tatsächlich vollständig widerspiegeln und nehmen Sie zur vollständigen Darstellung Ihres Gesundheitszustandes ärztliche Hilfe und die Hilfe eines versierten Versicherungsfachanwalts in Anspruch.

Stand: 26.02.2020

Verfahrenslaufzeiten Landgericht Köln

 

Die Gerichte führen jeweils interne Eingangsstatistiken und Erledigungsstatistiken, aus denen sich der unterjährig abgearbeitete Arbeitsanfall ergibt, um darüber ihren Personalbedarf zu ermitteln und Geschäftsverteilungspläne nötigenfalls zu ändern (Aufgaben neu zuzuweisen).

Eine Informationszugangsanfrage gem. §§ 4, 5 IFG NRW beim Präsidenten des Landgerichts Köln – exemplarisch zur 3., 20., 23., 25. und 26. Zivilkammer – ergab folgende Entwicklung in den Erledigungszahlen:

3. Zivilkammer (1. und 2. Instanz):
2013: 503; hiervon erledigt durch Vergleich: 140
2014: 519; hiervon erledigt durch Vergleich: 158
2015: 522; hiewon erledigt durch Vergleich: 133
2016: 499; hiervon erledigt durch Vergleich: 83
2017: 445; hiervon erledigt durch Vergleich: 98

20. Zivilkammer (1. und 2. lnstanz):
2013: 515; hiervon erledigt durch Vergleich: 100
2014: 411; hiervon erledigt durch Vergleich: 85
2015: 707; hiervon erledigt durch Vergleich: 65
2016: 531; hiervon erledigt durch Vergleich: 91
2017: 489; hiervon erledigt durch Vergleich: 101

23. Zivilkammer (1. und 2. lnstanz):
2013: 624; hiervon erledigt durch Vergleich: 100
2014: 642; hiervon erledigt durch Vergleich: 128
2015: 548; hiervon erledigt durch Vergleich: 94
2016: 643; hiervon erledigt durch Vergleich: 127
2017: 508; hiervon erledigt durch Vergleich: 80

25. Zivilkammer (1. und 2. lnstanz):
2013: 385; hiervon erledigt durch Vergleich: 67
2014: 528; hiervon erledigt durch Vergleich: 93
2015: 403; hiervon erledigt durch Vergleich: 93
2016: 433; hiervon erledigt durch Vergleich: 87
2017: 377; hiervon erledigt durch Vergleich: 88

26. Zivilkammer (1. und 2. lnstanz):
2013: 620; hiervon erledigt durch Vergleich: 125
2014: 595; hiervon erledigt durch Vergleich: 138
2015: 651; hiervon erledigt durch Vergleich: 129
2016: 506; hiervon erledigt durch Vergleich: 113
2017: 496; hiervon erledigt durch Vergleich: 85

Der Bescheid des Landgerichtspräsidenten vom 4.7.2018, der darüber Auskunft gibt, kann hier eingesehen werden.

Die Zuständigkeiten der jeweiligen Zivilkammern werden in den Geschäftsverteilungsplänen der jeweiligen Jahre dargestellt (veröffentlicht hier).

Einerseits lässt sich hieraus ablesen, dass die Zahlen der erledigten Verfahren derzeit sinken, andererseits, dass die Erledigungsquote durch Vergleich bei ungefähr 20% liegt. Dies zeigt, dass in Zivilrechtsstreiten eine genau umgekehrte Erledigungstendenz wie in der Arbeitsgerichtsbarkeit besteht, wo nur in ca. 10% von den Arbeitsgerichten überhaupt durch Urteil entschieden wird.

Verfahrenslaufzeiten der Justiz

Wie die LTO-Online in ihrem Bericht vom 13.3.2018 zum Justizranking beschreibt, gehören die Verfahrenslaufzeiten der Länderjustiz zu einem wohlgehüteten Geheimnis.

Bereits Joachim Wagner hat sich in einem Beitrag in NJW aktuell 24/2017, S. 18 – 19 (Von Spitzenreitern und Schlusslichtern) damit befasst.

Mir selber wurden auf Anfrage zu den Jahren 2015 (Bundesamt für Justiz 22.12.17) und 2016 (JM NRW 15.2.18 mit teilweisem Informationszugang) die in den Links hinterlegten Auskünfte erteilt.

Gegen die teilweise Versagung von Informationszugang durch das Justizministerium NRW zum Jahr 2016 läuft vor dem Verwaltungsgericht Köln unter dem Aktenzeichen 13 K 1407/18 eine auf §§ 4, 5 IFG NRW gestützte Klage.

Eine Informationsanfrage vom 20.2.2018 zur Berliner-Tabelle und Sachsen-Tabelle jeweils für das Jahr 2017 hat das Bundesamt für Justiz (BfJ) bislang noch nicht beantwortet.

Länderübersicht 2001

Länderübersicht 2002

Länderübersicht 2003

Länderübersicht 2004

Sachsen Tabelle 2007

Sachsen Tabelle 2008

Sachsen Tabelle 2009

Sachsen Tabelle 2010

Sachsen Tabelle 2011

Sachsen Tabelle 2012

Sachsen Tabelle 2013

Sachsen Tabelle 2014

Sachsen Tabelle 2015

Sachsen Tabelle 2016 E (Stand 2017-06-20)

Berliner Tabelle 2005

Berliner Tabelle 2006

Berliner Tabelle 2007

Berliner Tabelle 2008

Berliner Tabelle 2009

Berliner Tabelle 2010

Berliner Tabelle 2011

Berliner Tabelle 2012

Berliner Tabelle 2013

Berliner Tabelle 2014

Berliner Tabelle 2015

Berliner Tabelle 2016 E (Stand 2017-08-14)

 

> Näheres zu den Verfahrenslaufzeiten des Landgerichts Köln.

 

Die Justiz in Nordrhein-Westfalen ist inzwischen dazu übergegangen, Statistiken aus ihrem Geschäftsbereich zu veröffentlichen (hier), darunter auch solche zu Verfahrenslaufzeiten.

Sterbefasten aus rechtlicher Sicht

Seitdem am 10.12.2015 das Verbot der geschäftsmäßigen Förderung der Selbsttötung (§ 217 StGB) in Kraft getreten ist, herrscht in der Bevölkerung wie auch in Medizinerkreisen und unter Hospizen große Verunsicherung, welche Form der Hilfe zum Selbstmord in Deutschland nun noch erlaubt ist.

Eine 2/3-Mehrheit der Bevölkerung, über deren Willen der Gesetzgeber sich mit § 217 StGB n.F. hinweggesetzt hat, lehnt das Gesetz zwar ebenso ab, wie ganz mehrheitlich Ärzte, Hospizmitarbeiter und auch Juristen, was sich an einer erheblichen Reihe von Kritikpunkten festmacht.

Die neue Vorschrift steht aber, so tatbestandlich weitgehend sie auch gefasst sein mag, nun einmal im Gesetz, sodass die Ermittlungsbehörden und Strafgerichte bei einem sog. Anfangsverdacht gegen Sterbehelfer tätig werden müssen.

Ist Sterbefasten weiterhin erlaubt?

Das „Sterbefasten“ als solches ist für den Suizidenten strafrechtlich unproblematisch, da Suizid als solcher nicht strafbar ist.

Sterbefasten ist als Suizidmethode grundsätzlich jedoch von § 217 StGB für diejenigen erfasst, die daran mitwirken.

Beim Sterbefasten geht es nämlich gerade nicht nur darum, dass der Suizident sich von der Außenwelt zurückzieht und Nahrungs- und Flüssigkeitsaufnahme verweigert, was über die Zeit hinweg zu seinem Tod führt (das könnte er auch alleine, ohne fremde Hilfe), sondern er erwartet bzw. erfährt hierbei Assistenzleistungen:

  • Beratung
  • Zur-Verfügung-Stellung eines „Sterbezimmers“ in einem Hospiz o. ä.
  • Nebenleistungen Zimmerservice)
  • regelmäßige Benetzung der Mundschleimhaut (um das Durstgefühl zu lindern)
  • psycho-soziale Begleitung („um den Suizidenten auf seinem Weg zu halten“)
  • Waschen; Wechseln der Bettwäsche / Kleidung; sanitäre Versorgung
  • ggf. geringfügige Flüssigkeitsgabe, um die Wirksamkeit von Schmerzmedikamenten sicherzustellen
  • Applikation von Schmerzmitteln
  • anschließende Todesfeststellung mit weiterer „Abwicklung“

Das alles sind absichtliche Assistenzleistungen und damit „Förderung“ i.S.v. § 217 Abs. 1 StGB (Gewährung einer Gelegenheit), die gezielt für die Selbsttötung, damit der Suizident sie so umsetzen kann, wie es seinem Willen entspricht, nachgefragt und angedient werden.

Vom strafrechtsdogmatischen Standpunkt ist eine andere Auslegung dieses multiplen Hilfsangebots nicht zulässig.

Wie werden Staatsanwaltschaften und Gerichte mit § 217 StGB zukünftig umgehen

Fraglich ist jedoch, ob sich die Staatsanwaltschaften und Gerichte hierüber hinwegsetzen bzw. von der strengen Anwendung des § 217 StGB auf das „Sterbefasten“ absehen werden, um zumindest noch eine minimale „Fluchttüre“ vor dem strengen Regime des § 217 StGB zu ermöglichen, d. h. um dessen Folgen für die Praxis abzumildern.

Dafür könnte sprechen, dass in der Strafrechtswissenschaft ein großflächiger Protest gegen § 217 StGB n.F. eingesetzt hat: Wenn die ganz überwiegende Mehrzahl der Strafrechtsprofessoren diese Vorschrift in ihrer tatbestandlichen Weite ablehnt, spricht vieles dafür, dass Richter und Staatsanwälte diese Auffassung in gleichem Umfang teilen.

Zwar erfordert die Strafbarkeit nach § 217 StGB zugleich, dass der Sterbehelfer „geschäftsmäßig“ handelt (d. h. sein Verhalten auf eine Wiederholung anlegt). Eine Sicherheit für Sterbehelfer vor Strafverfolgung, die ein „Sterbefasten“ begleiten, gibt es jedoch nicht – insbesondere nicht für professionelle Helfer (Hospizmitarbeiter, Ärzte, Pflegeberufe), da ihnen „Geschäftsmäßigkeit“ allzu leicht unterstellt werden kann. Klarheit wird sicherlich die Rechtsprechung ergeben, wofür in den kommenden Jahren jedoch erst gerichtliche „Präzedenzfälle“ geschaffen werden müssen, damit schlussendlich der Bundesgerichtshof sich äußern kann.

Besonderes Risiko für Ärzte

Eine strafrechtliche Verurteilung wegen Verstoß gegen § 217 StGB kann für Ärzte, über die eigentliche Strafe hinaus, gem. § 5 i.V.m. § 3 Abs. 1 Nr. 2 BÄO – theoretisch – zum Entzug der Approbation wegen „Unwürdigkeit“ führen. Sie übernehmen mit der Hilfeleistung für einen Suizidenten damit ein weitaus höheres persönliches Risiko, als „nur bestraft“ zu werden, nämlich gefährden ihre berufliche Existenz.

Wer Sterbehilfe in Form von Unterstützung zum Sterbefasten in Anspruch nehmen möchte, sollte sich daher besser an einen Angehörige oder eine „nahe stehende Person“ wenden: Diese Personengruppen bleiben gem. § 217 Abs. 2 StGB per se straffrei. Ärzten muss hingegen dazu geraten werden, sich solcher Hilfeleistungen zu enthalten.

Stand: 10.04.2017

Bei Rüge gemäß § 17 a III 2 GVG kein Versäumnisurteil

Beim Versäumnisurteil handelt es sich um eine gerichtliche Entscheidung gegen eine Partei eines Rechtsstreits, die zur mündlichen Verhandlung nicht erschienen ist, obwohl sie ordnungsgemäß geladen wurde.

Voraussetzungen für ein Versäumnisurteil

Damit ein Versäumnisurteil ergehen kann, muss zunächst eine von der beklagten Partei verschuldete Säumnis, welche in Form eines Nichterscheinens vor Gericht erfolgen kann (oder des Nichtverhandelns), eintreten, § 514 II 1 ZPO. Diese ist jedoch nicht gegeben, wenn die nicht erschienene Partei davon hätte ausgehen dürfen, dass keine endgültige Entscheidung an diesem Termin fallen würde.

Möglichkeit der Rüge des Rechtswegs nach § 17 a III 2 GVG

Bei der Zulässigkeit des Rechtswegs handelt es sich um eine Prozessvoraussetzung, die gegeben sein muss, da ein Fehlen dieser Zulässigkeit dazu führt, dass der Rechtsstreit an das zuständige Gericht verwiesen werden muss oder, sollte dies nicht geschehen, die Klage abzuweisen ist. Da die Klage durch das Fehlen der Zulässigkeit des Rechtswegs unzulässig ist.

Nach § 17 a III 2 GVG kann Rüge gegen die Zulässigkeit des Rechtswegs erhoben werden. Dann muss vorab entschieden werden, ob der Rechtsweg zulässig ist. Eine Rüge kann bis zum Abschluss der mündlichen Verhandlung erhoben werden. Die Entscheidung hat durch Erlass eines Rechtswegbeschlusses zu erfolgen. Dies ergibt sich nach allgemeiner Ansicht aus dem Wortlaut des § 17 a III 2 GVG.

Der Vorab-Beschluss muss rechtsmittelfähig sein und ausdrücklich klären, ob der Rechtsweg tatsächlich fraglich oder zulässig ist.

Andere Gerichte sind an die Entscheidung durch den Beschluss nach § 17 a I GVG gebunden.

Für die Parteien ergibt sich daraus im Ergebnis, dass sie erst vor dem aufgerufenen Gericht erscheinen müssen, wenn dessen Zuständigkeit vollständig geklärt wurde und ein rechtskräftiger Beschluss dazu erlassen worden ist. Bis zu diesem Zeitpunkt darf das angerufene Gericht auch kein Versäumnisurteil erlassen, wie das Landgericht Köln im Urteil 13 S 37/16 vom 09.11.2016 entschieden hat.

Stand: 29.03.2017

Rechtsanwälte und ihre Richter

Worin besteht in publizistischer Hinsicht der Unterschied zwischen Rechtsanwälten und Richtern? Wer als Rechtsanwalt einen (wissenschaftlichen) Beitrag veröffentlicht, äußert damit lediglich seine „Privatmeinung“. Welche Außenwirkung diese entfaltet, ob und wer von ihr überzeugt wird, ist ungewiss, zumal in einer Zeit, in der über elektronische Medien und ein zunehmendes Angebot an Fachzeitschriften mehr geschrieben wird, als je zuvor.

Gerichte allerdings, wenn sie Entscheidungen verkünden, haben es nicht nötig, Überzeugungsarbeit für die Richtigkeit ihrer Auffassungen zu leisten: Richter sprechen durch ihr Urteil (vgl. Uwe Kranenpohl: Hinter dem Schleier des Beratungsgeheimnis, 2010, S.454). Sie brauchen nichts zu kommentieren und zu rechtfertigen, sondern können sich auf die staatliche Autorität ihres Rechtsprechungsmonopols berufen. Urteilen sie zwar stets im Einzelfall, so werden ihre Rechtsansichten doch für gewöhnlich verallgemeinert (sog. Präzedenzurteile). Jeder frisch ins Amt gelangte Proberichter einer Eingangsinstanz vermag auf diesem Weg nachhaltiger zu wirken, als seine ihn kürzlich zuvor noch unterrichtenden Lehrmeister an den Universitäten.

Ein Rechtsanwalt, der rechtspolitisch wirken möchte, erreicht daher mehr, wenn er sich nicht in die Schlange der Autoren einreiht, die auf die Annahme ihrer Beiträge durch die Schriftleitungen der Verlage warten, sondern ein Gericht dazu bewegt, einen streitigen Sachverhalt in seinem Sinne zu begutachten, um dieses sodann der Veröffentlichung zuzuführen. Sollte das Urteil „falsch“ sein bzw. nicht auf Zustimmung stoßen, vermag seine Bekanntgabe gleichwohl einen gewichtigen Beitrag zur Fortbildung des Rechts zu leisten, indem es in den einschlägigen Fachkreisen zu Diskussionen führt.

Ein Gerichtsurteil, ganz gleich welchen Gerichts, führt jedenfalls zu mehr Außenwirkung und Beachtung, als eine bloße Literaturstimme – und wird über Suchmaschinen des Internets und Datenbanken regelmäßig auch schneller veröffentlicht.

In medias res: Einige Kritikpunkte zur Anwaltsgerichtsbarkeit und deren Auswirkungen auf das materielle anwaltliche Berufsrecht.

1. Anwaltsgerichtsbarkeit und ihre Nähe zur Exekutiven

Im System der Anwaltsgerichtsbarkeit wird derzeit Reformbedarf erkannt. Rennert (AnwBl. 2014, 905) und Quaas (AnwBl. 2015, 330) zeigen mit diskussionswürdigen Ansätzen auf, dass verwaltungsrechtliche Anwaltssachen besser angegliedert an die Verwaltungsgerichtsbarkeit aufgehoben sein könnten, als in der Nähe zu Oberlandesgerichten. Ob dies für ein liberales, zukunftsorientiertes Berufsrecht günstiger wäre, sollte damit letztinstanzlich nicht der Bundesgerichtshof, sondern das Bundesverwaltungsgericht über Anwaltsangelegenheiten entscheiden, erscheint hingegen ungewiss: Verwaltungsrichter haben in Personalangelegenheiten für gewöhnlich mit Beschäftigten des öffentlichen Dienstes zu tun und könnten von Rechtsanwälten leichthin (unbewusst) erwarten, sich als solche zu verhalten.

Die anwaltlichen Richter an den Anwaltsgerichten und Anwaltsgerichtshöfen werden gem. §§ 94 Abs.2, 103 Abs.2 BRAO von den jeweiligen Landesjustizministern auf Vorschlag der Rechtsanwaltskammern ernannt. Eine andere Möglichkeit, in die Richterämter zu gelangen, als über die Vorschlagslisten der RAK-Vorstände, besteht nicht. Allein bereits schon dieser Umstand begründet die Besorgnis, dass die in jenen Gerichten tätigen Rechtsanwälte im Streitfall eine gesteigerte Nähe zu den Kammervorständen und ihren – als Terminsvertretern fungierenden – Geschäftsführern mitbringen, mit denen sie aufgrund langjähriger Bekanntheit eng verbunden sind (und deswegen schließlich wohl vorgeschlagen wurden). Eine Änderung hin zu mehr Mitbestimmung der Anwaltschaft insgesamt bei der Auswahl ihrer Richter könnte zwar darin liegen, wie bei den Mitgliedern der Satzungsversammlung zukünftig unmittelbar wählen zu lassen, wer den Justizministern für die Richterämter vorgeschlagen werden soll, wobei sich auch hier jedoch wiederum einflussreiche Gruppen wie z. B. regionale Anwaltvereine, aufgrund ihres guten Organisationsgrades, Wählerstimmen zu mobilisieren, mit ihren Interessen durchsetzen könnten.

Eine Stärkung der Unabhängigkeit der Anwaltsgerichtshöfe könnte jedenfalls darin liegen, dass in verwaltungsrechtlichen Anwaltssachen die Geschäftsverteilungspläne vorsehen, dass jene Rechtsanwälte als Richter nicht mitentscheiden dürfen, die aus eben den Bezirken stammen, in denen der Streit entstanden ist: So könnte vermieden werden, dass die beklagte Rechtsanwaltskammer ein zu großes Näheverhältnis zu den Entscheidern der Streitfälle unterhält.

2. Vertretung durch Sozietäten der Richter-Kollegen

Tatsächlich kann es passieren, dass sich Rechtsanwaltskammern vor den Anwaltsgerichtshöfen – anstelle von ihren Geschäftsführern, wie man es bei der öffentlichen Verwaltung erwarten darf (arg ex §§ 112 c Abs.1 BRAO, 67 Abs.2 und 4 VwGO) – durch Kanzleien vertreten lassen, denen als Sozietätsmitglied ein amtierender Richter des zur Entscheidung berufenen Anwaltsgerichtshofs angehört (So die Problematik im Verfahren AnwGH Hamm 2 AGH 26/12, vgl. Beschluss vom 12.4.2013). Hierdurch entsteht leichthin der Eindruck, dass zwischen Richtern und Rechtsanwaltskammern „die Schreibtische zu eng zusammenstehen“. Ungeachtet der Frage, ob § 67 Abs.5 VwGO aufgrund seiner Verweisung in § 112c Abs.1 BRAO dieses überhaupt gestattet (offen gelassen in AnwGH Hamm 2 AGH 26/12, Urteil vom 8.11.2013, und BGH AnwZ(Brfg) 82/13, Beschluss vom 12.3.2015), wenn der Briefkopf der Sozietät der RAK-Prozessbevollmächtigten diesen Anwaltsrichter führt, sollte unter den AGH-Richtern ein Ehrenkodex etabliert werden, der solches ausschließt. Andernfalls könnte auch hierdurch die Besorgnis begründet werden, dass sich die Senate in der Verlegenheit sehen könnten, nicht zum Nachteil einer Sozietät eines ihrer Kollegen zu entscheiden.

3. Anwaltsgerichte in Abhängigkeit von Rechtsanwaltskammern

Im Disziplinarrecht vor den Anwaltsgerichten besteht die Besonderheit, dass nur Entscheidungen zurückgehend auf Anschuldigungen durch Generalstaatsanwaltschaften noch von einer höheren Instanz überprüft werden können, nicht aber Beschlüsse über Rügebescheide des Kammervorstandes. Was aber, wenn der zugrundeliegende Streit sedes materiae grundsätzliche Bedeutung hat und das Anwaltsgericht über den Einspruch gegen eine Rüge zu entscheiden hat. Eine mögliche Fehlentscheidung eines Anwaltsgerichts, als gleichwohl nicht mehr angreifbares Präjudiz, mag das Berufsrecht dann ggf. in eine falsche Richtung lenken.

Anwaltsgerichte unterhalten gem. § 98 Abs. 1 und 2 BRAO eine Geschäftsstelle, deren erforderliche Bürokräfte, Räume und Arbeitsmittel durch die Rechtsanwaltskammer zur Verfügung gestellt werden. Welche Funktion haben Anwaltsgerichte? U. a. Rügebescheide des Kammervorstandes in Verfahren nach § 74 a BRAO zu überprüfen. Diejenige staatliche Stelle, die überprüft werden soll, stellt also die Sach- und Personalmittel für die darauf gerichtliche richterliche Tätigkeit. Welchen Protest würde es vom Standpunkt der Gewaltenteilung wohl hervorrufen, würden die Strafgerichte ihre Sach- und Personalmittel von den Staatsanwaltschaften oder die Verwaltungsgerichte von den Regierungspräsidien beziehen? Wie blind kann Justitia unter diesen Umständen sein? Ein besseres Fundament für Neutralität wäre, die Anwaltsgerichte komplett in die ordentliche Gerichtsbarkeit einzugliedern und unabhängig von den Rechtsanwaltskammern aus den Landeshaushalten zu finanzieren.

4. Anfechtbarkeit von Beschlüssen einer Kammerversammlung

Der Anwaltsgerichtshof Hamm (Urteil 2 AGH 26/12 vom 8.11.2013) und der Bundesgerichtshof (Urteil AnwZ(Brfg) 82/13 vom 12.3.2015) hatten sich mit der Frage zu befassen, ob und inwieweit Beschlüsse der Mitgliederversammlung gerichtlich anfechtbar sind, worüber es in zurückliegenden Jahren immer mal wieder Streit gab. Dem lag als Ausgangskonflikt zugrunde, dass bei der beklagten Rechtsanwaltskammer eine lange Tradition bestand, dass die jährlichen Versammlungen (§ 89 BRAO) von Kammermitgliedern dominiert wurden, die dem Kammervorstand eher unkritisch gegenüberstanden, da sie im Grunde „immer wieder von denselben“ Stimmenmehrheiten beherrscht wurden: Rechtsanwälte, die zugleich bei den drei örtlichen Anwaltvereinen aktiv waren, wobei diese Anwaltvereine nicht nur geringe finanzielle Zuwendungen aus dem Kammerhaushalt erfuhren. Haushaltsvorlagen wurden „abgeschmust“; eine kritische Kontrolle der Verwendung der Finanzmittel durch den Kammervorstand seitens der Mitgliederversammlung fand faktisch nicht statt, was nach Bekanntwerden erstaunlicher Unregelmäßigkeiten ein anhaltendes Misstrauen über die Lauterkeit der Mittelverwendung zur Folge hatte, sodass schließlich der in der Kammerversammlung getroffene Beschluss zur Festsetzung des Mitgliedsbeitrages und zur Entlastung des Kammervorstandes zusammen mit den Wahlen zum Kammervorstand gerichtlich angefochten wurde. Gerügt worden war insbesondere, dass der Kammerhaushalt anstelle von unabhängigen „Kassenprüfern“, wie sie in den Satzungen eingetragener Vereine selbstverständlich sind, lediglich von einer WP-Gesellschaft überprüft wurde: Diese konnte jedoch nur die rechnerische Richtigkeit und stichprobenartig den Bestand von Ausgabenbelegen überprüfen, nicht jedoch, ob der Vorstand zweckgebundene Pflichtbeiträge zur Finanzierung eines Karnevalsempfangs im ersten Hotel der Stadt aufwendete.

Der AnwGH Hamm und der Bundesgerichtshof haben die Anforderungen an die Zulässigkeit einer solchen Klage jedoch so hoch gehängt, dass sie praktisch unerreichbar sind: Es gibt offenbar Abhaltungen in der Anwaltsgerichtsbarkeit, die damit verbundene Arbeit, Beschlüsse einer Kammerversammlung gerichtlich nachzuprüfen, nicht schultern zu wollen: Steht dieses Ziel fest, lässt sich juristisch immer auch ein Weg finden, die für die Klage notwendige Beschwer des Klägers in eigenen Rechten hinwegzuargumentieren.

Hierzu stellt sich die Frage, ob der vom BGH bestätigte restriktiver Umgang zur faktisch nicht bestehenden gerichtlichen Nachprüfung von (Haushalts-)Beschlüsse einer Kammerversammlung der Selbstverwaltung eher schadet als nützt. Der „Versammlung der Kammer“ obliegt gem. § 89 Abs.2 Nr. 6 BRAO u. a., „die Abrechnung des Vorstandes über die Einnahmen und Ausgaben der Kammer sowie über die Verwaltung des Vermögens zu prüfen und über die Entlastung zu beschließen“. Die Mitgliederversammlung als solche kann diese Aufgabe, einen Etat von mehreren Millionen Euro zu hinterfragen, binnen der wenigen Stunden ihres jährlichen Zusammentretens jedoch faktisch bereits nicht leisten. Ihr fehlt zum einen der Einblick in die Bücher der Geschäftsstelle und zum anderen die Zeit für eine eingehende Prüfung, gerade auch im Hinblick darauf, ob die Ausgaben des Vorstandes und der Geschäftsführer sich strikt auf den gesetzlichen Zuständigkeitsbereich der berufsständischen Kammer beschränkt haben. Wer fremde Gelder verwalten und ausgeben darf, unterliegt nun einmal der (nur zu menschlichen) Versuchung, seinen Aufgabenbereich weit zu verstehen, Freunde und Gönner als „Verwaltungshelfer“ oder gar „Beliehene“ zu beauftragen, sich als „Mäzen“ zu gerieren. § 89 Abs.2 Nr.6 BRAO überträgt der Mitgliederversammlung somit eine Aufgabe, die sie nur dann erfüllen könnte, wenn ihr unabhängige Kassenprüfer, die umfassend Zugang zur Buchhaltung der Geschäftsstelle haben und insbesondere die Mittelverwendung prüfen können, vor Beschlussfassung berichten würden. Solche Funktionsämter schreibt die BRAO bedauerlicherweise bislang jedoch nicht vor. Allein bereits die Präsenz von „Kassenprüfern“, wie jeder Sportverein sie kennt, die Gefahr, „entdeckt zu werden“, die bei einer bloßen WP-Gesellschaft als Überwachungsinstrument deutlich geringer ist, würde die notwendige Disziplin im Umgang mit den Mitgliederbeiträgen bereits befördern.

5. Einstellungen bei Rüge- und Anschuldigungsverfahren 

Liest man zu § 74a in den BRAO-Kommentierungen nach, findet sich dort durchgehend die Meinung, dass Verfahren über Anträge auf anwaltsgerichtliche Entscheidungen zur Überprüfung von Rügebescheiden nicht gem. §§ 153, 153a StPO eingestellt werden können, weil die Verfahrensvorschriften der StPO zu Opportunitätserwägungen im Rügeverfahren keine Rolle spielten (Vgl. Hartung in: Henssler/Prütting, BRAO, 4.Aufl. 2014, §74a Rn. 20; Kleine-Cosack, BRAO, 7.Aufl. 2015, §74a Rn.4; Weyland in: Feuerich/Weyland, BRAO, 9.Aufl. 2016, § 74a Rn.30; Lauda in: Gaier/Wolf/Göcken, Anwaltliches Berufsrecht, 2.Aufl. 2014, § 74a Rn.12). In zwei Fällen hat das AnwG Köln gleichwohl genau solche Verfahrenseinstellungen beschlossen, was Zustimmung verdient. Das Antragsverfahren vor dem Anwaltsgericht dient zwar der Überprüfung, ob der RAK-Vorstand das Verhalten eines Kammermitglieds zutreffend „gerügt“ hat. Der Rechtsgedanke der §§ 153, 153a StPO, auch wenn diese Vorschriften auf eine Ermessensentscheidung des Gerichts unter Mitwirkung der Beteiligten hinauslaufen, kann jedoch – jedenfalls in Ausnahmefällen – auch auf Berufsrechtsverstöße und nicht lediglich auf Straftaten und Ordnungswidrigkeiten Anwendung finden. Z. B., wenn das Rüge- und/oder Gerichtsverfahren bereits überlange gedauert hat oder der Sachverhalt unverhältnismäßig kompliziert aufzuklären wäre. Die überlange Dauer eines Gerichtsverfahrens begründet ungeachtet der §§ 198 ff. GVG einen Verstoß gegen den dem Rechtsstaatsgebot des Art. 20 GG ausfließenden Anspruch auf ein faires Verfahren (der zugleich auch in Art. 6 EMRK verbürgt ist). Da der Rechtsanwendungsbefehl des Art. 1 Abs. 3 GG auch die Anwaltsgerichte in die Pflicht nimmt, haben diese in jedem Stadium des Verfahrens zu prüfen, ob wegen etwaiger überlanger Verfahrensdauer, wie das AnwG Köln sie in beiden Fällen angenommen hat, die Verfahrensfortsetzung noch zumutbar ist.

6. Unterentwickelte Veröffentlichungskultur

Da uneingeschränkt jede BGH-Entscheidung zur Veröffentlichung gelangt, werden auch alle Urteile des Anwaltssenats der Öffentlichkeit zugänglich gemacht. Prüft man Juris – als die nach wie vor größte juristische Urteilsdatenbank – hingegen darauf ab, wie viele Urteile und Beschlüsse der Anwaltsgerichtshöfe und Anwaltsgerichte das Licht der Öffentlichkeit erblickt haben, fällt die Bilanz eher nüchtern aus. Von 1994 – 2015 finden sich dort 731 Einträge zu AGH-Entscheidungen und von 1995 – 2015 gerade einmal 96 zu solchen von Anwaltsgerichten. Da Juris im gleichen Zeitraum bereits über 2000 AnwZ-Entscheidungen des BGH auflistet und gewiss nicht in allen Streitfällen Rechtsmittel eingelegt werden, muss die Zahl der veröffentlichungsfähigen Ausgangsentscheidungen deutlich höher gelegen haben. Den anwaltlichen Berufsgerichten fehlt jedoch offenbar der Elan, ihre Entscheidungen zu publizieren, obgleich dies in Zeiten heutiger Datenbanken doch recht einfach wäre. Sie unterhalten nicht einmal eine eigene Homepage, auf denen sie ihre Geschäftsverteilungspläne veröffentlichen.

7. Wählbarkeit zu Ämtern der Selbstverwaltung bei Anschuldigungsverfahren

Nicht für ein Vorstandsamt wählbar ist, wer einen der Ausschlussgründe des § 66 BRAO verwirkt hat. Gem. § 66 Nr.1 BRAO genügt hierfür schon, dass ein anwaltsgerichtliches Verfahren „eingeleitet“ wurde, ungeachtet dessen, ob es später zu einem Freispruch oder gem. § 114 Abs.1 Nr.1 BRAO lediglich zu einer „Warnung“ führte, die für sich keinen Verlust der Wählbarkeit zur Folge hätte. Gem. § 121 BRAO wird das anwaltsgerichtliche Verfahren jedoch bereits durch die bloße Einreichung einer Anschuldigungsschrift durch die Generalstaatsanwaltschaft eingeleitet, d. h. im Zeitpunkt des Eingangs dieser Schrift beim Anwaltsgericht entfällt zwingend und unabdingbar das passive Wahlrecht. Diese Einschränkung ist deutlich strenger als für die Wahlen zu Volksvertretungen (vgl. u. a. § 13 Bundeswahlgesetz), was die Frage nach dem Grund dieser Strenge aufwirft und auch gefährlich sein kann: Möchte die Generalstaatsanwaltschaft ein bestimmtes Vorstandsmitglied oder gar den RAK-Präsident zur Wiederwahl verhindern, brauchte sie lediglich vor den Wahlen eine Anschuldigungsschrift gegen ihn einzureichen, und zwar so kurzfristig, dass das Anwaltsgericht gem. § 131 BRAO die Eröffnung der Hauptverhandlung nicht (rechtskräftig) ablehnen kann. Da die Generalstaatsanwälte gem. § 146 GVG der Weisungsgebundenheit durch die Landesjustizminister unterstehen, könnte auch ein Justizminister oder Staatssekretär auf die Idee kommen, einem Widersacher im RAK-Amt „eins auszuwischen“, was sich mit Unabhängigkeit der Selbstverwaltung nicht verträgt. Besser wäre daher eine Modifizierung bzw. Streichung des § 66 Nr.1 BRAO, um eine Einmischung der Landesjustizverwaltung in die Selbstverwaltung in der Form zu verhindern, dass sie z. B. einen rechtspolitisch engagierten (und ggf. „unbequemen“) Rechtsanwalt auf dem Weg über eine Anschuldigungsschrift kurz vor den Vorstandswahlen kurzerhand „kaltstellt“.

8. Übertragbarkeit von Aufgaben des Kammervorstands auf „Beauftragte“

Lässt man den Blick verträumt ins Gesetz schweifen, findet sich in § 79 BRAO, dass die laufenden Geschäfte einer Rechtsanwaltskammer durch das Präsidium geführt werden (sollen), welches „die Geschäfte des Vorstandes, die ihm durch dieses Gesetz oder durch Beschluss des Vorstandes übertragen werden“ (§ 79 Abs.1), erledigt, welches über „die Verwaltung des Kammervermögens“ (§ 79 Abs.2) beschließt und welches wiederum gem. § 78 Abs.1 BRAO von den Mitglieder des Vorstandes „aus seiner Mitte“ gewählt wird, und zwar alsbald nach dessen Konstituierung (§ 78 Abs. 4). Das RAK-Präsidium besteht gem. § 78 Abs.2 BRAO aus dem Präsidenten, dem Vizepräsidenten, dem Schriftführer und dem Schatzmeister, wobei die Zahl der Präsidiumsmitglieder vom Vorstand weiter – beliebig – erhöht werden kann (§ 78 Abs.3).

Die Realität jedoch sieht anders aus. Die täglichen Verrichtungen einer Rechtsanwaltskammer („Geschäfte“) werden nicht von gewählten Vorstandsmitgliedern, sondern von „RAK-Geschäftsführern“ erledigt, bei denen es sich lediglich um „leitende Verwaltungsangestellte“ handelt, denen weitere – nachgeordnete – Verwaltungsmitarbeiter der Kammergeschäftsstelle zugeordnet sind und weisungsgebunden zuarbeiten. RAK-Geschäftsführer werden arbeitsvertraglich vom Präsidium eingestellt und nicht von der Kammerversammlung gewählt, die bei ihrer Bestellung – unbeachtet der faktisch hohen Bedeutung dieser Ämter – auch kein Mitspracherecht besitzt. Sie zeichnen „i.A.“ und zuweilen auch „i.V.“, mit – mangels gesetzlicher oder satzungsrechtlicher Grundlage – unklarer Berechtigung ihrer Vertretungsmacht, wobei sie als Hauptamtliche gewiss über den Vorteil verfügen, dass sie das Berufsrecht durchweg besser beherrschen, als die lediglich ehrenamtlich tätigen und auf Zeit gewählten Vorstandsmitglieder, deren Hauptberuf in den Kanzleien liegt. Da die Bundesrechtsanwaltsordnung die Funktion von „Kammergeschäftsführern“ jedoch nicht vorsieht, ist bislang ungeklärt, inwieweit der Vorstand bzw. das Präsidium Entscheidungswalt in Disziplinar- und Verwaltungsangelegenheiten auf angestellte Kammergeschäftsführer übertragen und diesen eigenständige Entscheidungen überantworten darf. Z. B. die verbindliche Beantwortung von Mitgliederanfragen zu berufsrechtlich relevantem Verhalten, über Beschwerden, zur Anrechenbarkeit von Fortbildungsleistungen nach der FAO, bei Streitfragen in Ausbildungsverhältnissen, Abgabenmitteilungen an die Generalstaatsanwaltschaften etc.. Das Vakuum, das die Abwesenheit der gewählten Vorstandsmitglieder von den RAK-Geschäftsstellen bedingt, führt zu rechtsfreien Räumen für die Kammergeschäftsführer. Sollte ein Mitglied lediglich von einem RAK-Geschäftsführer beschieden werden, hat es unter Verweis auf § 79 BRAO auf Antrag jedenfalls einen Anspruch darauf, dass sich – je nach weiterer ggf. satzungsrechtlicher Ausgestaltung der Zuständigkeiten – entweder das Präsidium, eine Vorstandsabteilung oder aber der (Gesamt)Vorstand mit seinem Anliegen befasst.

Dass es einer Rechtsanwaltskammer nicht gestattet ist, ihrer hoheitlichen Aufgaben nach dem Berufsbildungsgesetz, die gem. § 71 Abs.4 BBiG als „zuständige Stelle“ ihr obliegen, auf Anwaltvereine und/oder „Ausbildungsbeauftragte“ zu übertragen, wurde gerichtlich hingegen bereits entschieden (vgl. BGH AnwZ(Brfg) 67/12, Urteil v. 10.3.2014; vorgehend AnwGH Hamm 2 AGH 24/11, Urteil . 7.9.2012).

Vorstehende Problempunkte wurden anhand von Erfahrungen aus berufsrechtlichen Rechtsstreiten erkannt (der Autor war jeweils verfahrensbeteiligt). Bei einer Überarbeitung der Anwaltsgerichtsbarkeit sollte de lege ferenda insbesondere der Frage nachgegangen werden, wie der Einfluss der Rechtsanwaltskammern bei der Besetzung der Berufsgerichte mit „unabhängigen“ Richtern, die nur ihrem Gewissen unterworfen sind (und sich nicht jenen Stellen verpflichtet sehen brauchen, die sie für ihre Ämter vorgeschlagen haben), minimiert werden kann. Durch eine jeweils eigene Internetpräsenz erführen die Anwaltsgerichte und Anwaltsgerichtshöfe jedenfalls die Möglichkeit, Entscheidungen mit grundsätzlicher Bedeutung unabhängig von den Redaktionen der lokalen RAK-Mitteilungsblätter vorzustellen und für eine bessere „Sichtbarkeit“ dieser Gerichte in der Öffentlichkeit zu werben.

Stand: 12.03.2017